Tragischer OP-Unfall: Kann man ohne Lächeln leben?
Bei einer angeblichen Routine-OP wurde ein Nerv durchtrennt – und das Gesicht von Nicole Görg (43) war plötzlich völlig verzerrt. Hier erzählt sie, wie sie es schaffte, nicht aufzugeben
- Nach tragischem OP-Fehler: Viele Fragen, viele Tränen
- Nicole Görg: "Ich wollte mich mit der Situation nicht abfinden"
- 4 Operationen folgen: Plastischer Chirurg tut, was er kann
- Ihr größter Wunsch: Endlich wieder leben können
- "Der Abend war gelaufen - für mich und für ihn"
- Nicole Görg: "Hat mich gelehrt, gelassener zu sein"
Als ich aus der Narkose aufwachte, stand mein Freund vor mir. Sein Gesicht war kalkweiß, er hatte Tränen in den Augen. Im nächsten Moment merkte ich, dass meine rechte Gesichtshälfte taub war, ich nicht blinzeln, nicht richtig sprechen konnte, keinerlei Regung mehr möglich war. Panik machte sich in mir breit. Die OP sollte doch ein Routineeingriff sein, bloß eine Zyste aus meinem Gehörgang entfernt werden.
Nach tragischem OP-Fehler: Viele Fragen, viele Tränen
Doch die Zyste hatte sich als Schwannom entpuppt – ein gutartiger Tumor, der den Gesichtsnerv ummantelt hatte. „Keine Sorge, in sechs Wochen ist alles wieder gut – der Nerv ist nur beleidigt. Mit Elektroden und Cortison aktivieren wir ihn wieder“, sagte der HNO-Arzt. „Die OP habe ich erst zum zweiten Mal durchgeführt.“
Das machte mich stutzig. Und überhaupt: War so ein Eingriff nicht ein Fall für einen Neurochirurgen? Mein Gesicht im Spiegel zu sehen war kaum zu ertragen. Ich sah aus, als hätte ich einen Schlaganfall gehabt. Ich habe geweint, viel geweint. Wenn mich jemand gefragt hat, was ich an mir mag, war meine Antwort: mein Lächeln. Ja, das mochte ich wirklich. Und jetzt? Es war weg. Mein Gesicht völlig verzerrt
Nicole Görg: "Ich wollte mich mit der Situation nicht abfinden"
Anfangs hatte ich noch Hoffnung, dass sich mein Gesichtsnerv erholen würde. Doch auch nach sechs Wochen war keinerlei Besserung eingetreten. Ich sprach mit meiner Hausärztin und mit meiner Neurologin, letztere bestätigte mir, dass die OP normalerweise von Neurochirurgen durchgeführt wird.
Ich googelte wie eine Besessene, klickte mich durch Foren, suchte nach Informationen. Ich wollte mich mit der Situation, mit meinem Gesicht, nicht abfinden. Und war überrascht, wie viele Betroffene es gibt – und wie wenig aufgeklärt wird.
Oft verschwindet die Lähmung von allein wieder. Bei mir nicht. Die OP war im Januar 2018, im Juli wurde der erste EMG-Test durchgeführt, der die Muskel- und Nervenfunktion misst. Das Ergebnis war ernüchternd, ein zweiter Test im Herbst sorgte für Gewissheit: Der Fazialisnerv, der Gesichtsnerv, war irreparabel durchtrennt.
4 Operationen folgen: Plastischer Chirurg tut, was er kann
Während meiner Recherche stieß ich auf Dr. Kehrer, einen plastischen Chirurgen, der damals in Regensburg und heute in Ingolstadt praktiziert. Ein Betroffener hatte in einem Forum von seiner tollen Arbeit berichtet – ich traf mich erst mit dem Patienten und dann mit Dr. Kehrer. Ich hatte auf Anhieb ein gutes Gefühl, er nahm sich Zeit.
Im Januar fand die erste Rekonstruktion statt, ich bekam ein Lidimplantat, Nerven wurden transplantiert – die OP dauerte zehn Stunden. Meine Mutter begleitete mich ins Krankenhaus, wir hatten eine Art Mutter-Kind-Zimmer. Was andere dachten, war mir egal.
Noch drei weitere Male hat mich Dr. Kehrer operiert, das letzte Mal im März dieses Jahres. Jede OP hat mir ein Stück Lebensqualität zurückgegeben. Außerdem gehe ich drei-, viermal die Woche zur Logopädin und Physiotherapeutin.
Ihr größter Wunsch: Endlich wieder leben können
Wieder essen, trinken, sprechen, lächeln zu können – dahinter steckt viel Arbeit. Mein Wunsch ist, mithilfe einer OP wieder blinzeln zu können – seit dem missglückten Eingriff schlafe ich mit einem Uhrglasverband, der dafür sorgt, dass mein geöffnetes Auge nachts nicht austrocknet. Der Verband erinnert an ein Bullauge, mein Freund und ich scherzen manchmal darüber. Es tut gut, einen lockereren Umgang gefunden zu haben.
Mich hätte nicht gewundert, wenn mich Sandy im ersten Jahr nach der missglückten OP verlassen hätte – ich war frustriert, traurig, überfordert, fühlte mich vom Gesundheitssystem im Stich gelassen. Rückblickend bin ich froh, meiner Arbeit als Sekretärin so schnell wieder nachgegangen zu sein. Die Ablenkung tat gut. Und Sandy hat dafür gesorgt, dass ich mich nicht einigele.
"Der Abend war gelaufen - für mich und für ihn"
Ich musste mich oft überwinden, das muss ich heute noch. Vor allem bei größeren Feiern, Veranstaltungen mit fremden Menschen. Es gab Partys, bei denen ich mir vornahm, nicht zu lächeln, um die Lähmung zu verstecken – dabei habe ich immer wahnsinnig gern gelacht. Einmal nahm jemand mein Gesicht in seine Hände und fragte: „Kannst du denn gar nicht lachen?“ Der Abend war gelaufen – für mich und für ihn. Er hat es nicht böse gemeint, es war Unwissenheit.
Ein Kommentar, der mich wirklich traf, war: „Ach, Frau Görg, ich habe größten Respekt vor Ihnen. So, wie Sie aussehen, würde ich nicht rausgehen.“ Das tut weh. Schlimm ist auch, wenn Menschen nur starren, aber nichts sagen.
Nicole Görg: "Hat mich gelehrt, gelassener zu sein"
Die Fazialisparese hat mich gelehrt, gelassener zu sein, mich nicht mehr über Kleinigkeiten aufzuregen. Vielleicht schenke ich mit diesem Artikel der einen oder anderen betroffenen Person Hoffnung. Die Frage, ob man ohne Lächeln leben kann, beantworte ich so: Man kann überleben. Das war für mich keine Option. Lachen ist gesund, es macht glücklich, es verbindet – Lachen ist so wichtig.
"Dass ich mich nicht eingeigelt habe, verdanke ich dir."
- Nicole über ihren Freund Sandy, der sie immer unterstützt hat
Autorin: Christina Wüseke
Fotos: privat
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