Anenzephalie: „Wir wollten keinen Schwangerschaftsabbruch“
Wie ist es, ein Baby mit einer Fehlbildung wie Anenzephalie auszutragen, das noch vor oder kurz nach der Geburt sterben wird? Erfahrungsbericht einer Mutter.
Anenzephalie: Die Geschichte von Sternenkind Mariella
Hat es einen Sinn, ein Baby auszutragen, das nach der Geburt ganz sicher sterben wird, vielleicht auch schon vorher? Dieser unendlich schweren Frage mussten sich Maya und Torben (Namen geändert) stellen, als bei ihrer ungeborenen Tochter eine schwere Fehlbildung diagnostiziert wurde: Anenzephalie.
Anenzephalie bedeutet, dass dem Baby wichtige Teile des Gehirns fehlen und die Schädeldecke nicht geschlossen ist. Kinder mit dieser Fehlbildung haben keine Chance zu Überleben. Manche von ihnen sterben noch im Bauch der Mutter, diejenigen, die lebend auf die Welt kommen, sterben wenige Tage später – meist weil ihre Atmung irgendwann aussetzt.
Mediziner empfehlen bei der Diagnose Anenzephalie eher eine Abtreibung als das Weitertragen des Kindes. Maya und Torben waren aber nicht fähig, sich für eine Abtreibung zu entscheiden. Sie wollten ihre kleine Tochter so lange wie möglich bei sich haben.
„Liebe Mama ...“ Erfahrungsbericht einer Sternenkindmutter
Die furchtbar traurige Geschichte von Maya, Torben, ihrem Sohn Fynn und seiner Schwester Mariella erzählt die Autorin Tanja Wenz in dem Buch „Die kleinen Sterne leuchten immer – Briefe einer Sternenkindmutter“. Das Buch ist an die berührende Lebensgeschichte einer befreundeten Familie angelehnt, die ihr an Anenzephalie erkranktes Kind nicht abgetrieben, sondern ausgetragen haben.
Maya schildert ihre Geschichte und die so schwere wie schöne Zeit mit Mariella in Form von Briefen an ihre verstorbene Mutter. Hier berichtet sie von dem furchtbaren Moment, in dem sie und ihr Mann Torben erfahren haben, dass ihr Baby nicht leben können wird:
„Liebe Mama,
es ist alles so schrecklich. Mama, das Baby in meinem Bauch kann nicht weiterleben. Absolut und mit aller Härte nicht. Es hat eine Anenzephalie, ihm fehlen wichtige Teile vom Gehirn und die Schädeldecke ist nicht geschlossen. Das Baby wird kurze Zeit nach der Geburt sterben, vielleicht aber auch schon vorher.
Mama, was soll ich denn jetzt machen? Mama, wieso wir? Warum? Was haben wir denn verbrochen?
Es ist ein Mädchen. Bei der Ultraschalluntersuchung vor zwei Tagen wurde festgestellt, dass das Köpfchen zu klein ist. Der Arzt brummelte: „Das Gerät ist wohl defekt.“ Dann schickte er uns in eine Spezialklinik in der nächsten Stadt, die ein besonderes Ultraschallgerät hat. Ich war wie gelähmt und konnte nicht mehr klar denken. Torben hat den Arzt gefragt, was denn los sei, was die Meinung des Arztes sei, ob es eine Diagnose gebe, doch der Arzt war kurz angebunden und distanziert, so kannte ich ihn gar nicht. In der Schwangerschaft mit Fynn habe ich mich bei ihm immer sehr gut aufgehoben gefühlt.
Der Weg zur Klinik war furchtbar. Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, ob das Gerät wohl wirklich defekt und was hier los ist. Meine Hände haben so gezittert, dass ich nie und nimmer Auto gefahren wäre. Zum Glück war Torben bei mir.
In der Klinik wussten die Ärzte schon Bescheid und wir mussten nicht lange warten. Im Untersuchungsraum war es absolut still. Nur mein Herz pochte so laut, dass ich mir sicher war, dass es jeder hören musste. Als ich auf der Liege lag und der Arzt das Gel für den Ultraschallkopf auf meinem Bauch verteilte, bekam ich Panik. Ich wollte weg und nichts sehen und hören. Irgendwie wusste ich, dass etwas mit unserem Kind nicht stimmt. Etwas Gravierendes. Torben nahm meine Hand und drückte sie fest. Ich glaube, sonst wäre ich wirklich einfach weggelaufen wie ein kleines Kind.
Wortlos und mit angespanntem Gesichtsausdruck führte der Arzt den Schallkopf über meinen Bauch, über unser Kind. Ich sah Torben an und wusste, dass er auch große Angst hatte. Gemeinsam schauten wir dann auf den Monitor des Ultraschallgeräts. Die Minuten zogen sich unerträglich in die Länge und die Stille im Raum war fruchteinflößend. Nur das deutlich sichtbare Pulsieren des Herzens unseres Kindes im Ultraschallbild konnte mich etwas beruhigen.
„Ihr Kind ist außerhalb des Mutterleibes nicht lebensfähig“
Endlich setzte der Arzt den Schallkopf ab und sah uns seufzend an: „Es tut mir leid, aber Ihr Kind hat eine schwere Fehlbildung, es ist außerhalb des Mutterleibes nicht lebensfähig.“ Ich wischte mir mit einem Tuch den Bauch sauber und sah ihn fassungslos an. Daraufhin führte er uns in ein Besprechungszimmer und erklärte uns alles genau. Er riet uns zu einer Abtreibung. Dafür würden sich fast alle betroffenen Eltern entscheiden, sagte er. Sehr wahrscheinlich würde das Kind schon vor der Geburt sterben, dann müsste eine Geburtseinleitung gemacht werden und das Kind würde tot auf die Welt kommen. Es sei unsinnig, ein so stark behindertes Kind neun Monate auszutragen, da es sowieso sterben würde. Jetzt wäre eine Abtreibung noch einfach durchzuführen, da die Fehlbildung so früh in der Schwangerschaft entdeckt wurde und das Kind noch sehr klein sei. Wenn wir wollten, könnten wir sofort einen Termin vereinbaren. Das wäre sicher das Beste, meinte er.
Seine kühlen Worte waren wie Peitschenhiebe für mich. Ich war so geschockt, dass ich Mühe hatte, ihm zuzuhören. Meine Gedanken schweiften immer wieder ab: Was hatte der Arzt gesagt, was ich tun solle? Unser Kind umbringen? Die Schwangerschaft beenden? Das geht doch nicht, unser Kind umbringen, das kleine Wesen, das mir anvertraut ist und dessen Herz ich vorhin so deutlich habe schlagen sehen. Nein!
Meine ganzen Vorstellungen von unserer Zukunft brachen in mir zusammen. Kein Stillen, keine Innigkeit und keine Harmonie zu viert. Während der Arzt erzählte, sah ich die vielen Bilder von gesunden, süßen Babys an der Wand. Fynn war genauso ein süßes Baby gewesen und ich hatte selbstverständlich gedacht, dass auch das Baby in meinem Bauch so sein würde.
Ich konnte mich nicht konzentrieren und wusste nicht, was ich sagen sollte. Eine Weile blieb es in dem Besprechungszimmer ruhig, dann hörte ich, wie Torben die Luft tief durch die Nase einsog und sagte: „Wir überlegen uns das zu Hause in Ruhe, das können wir nicht jetzt sofort entscheiden.“ Ich war Torben für diese Worte so dankbar, denn er hat damit Verantwortung für mich und das Kind übernommen. In dieser Situation, mit dem strengen Desinfektionsmittelgeruch in der Nase und einem Kopf, der wie leergefegt war, hätte ich das nicht gekonnt.
Der Arzt schien mit Torbens Worten nicht zufrieden zu sein. Kurz angebunden vereinbarte er einen neuen Termin für uns. Wie in Trance stieg ich schließlich in unser Auto und wir fuhren wortlos nach Hause.
Als eine Freundin Fynn nach Hause brachte, merkte sie sofort, dass etwas Schlimmes passiert sein musste. Ich nahm jedoch nur wortlos Fynn auf den Arm und ging hinein. Nachdem er in seinem Bettchen ruhig und friedlich schlief, standen Torben und ich noch lange Hand in Hand und beobachteten ihn in seinem tiefen Schlaf. Wir standen zwar zusammen, aber wir konnten nicht miteinander reden und das Unfassbare aussprechen. Immer noch schweigend gingen wir zu Bett.
Mitten in der Nacht wachte ich auf und fing hemmungslos an zu weinen. Bis zum Morgen weinte ich in Torbens Armen. Er versuchte, stark zu sein und mich zu trösten, aber später hörte ich ihn in der Küche leise schluchzen.
Mama, ich konnte nicht zu ihm gehen, ich wäre zusammengebrochen. Ach Mama, ich brauche dich jetzt, du fehlst mir so.
Ich bin so verzweifelt!
Deine Große“
Es folgen grausame Tage und Wochen für Maya und Torben, in denen sie sich mit der Frage quälen, was sie tun sollen. Abtreiben und ihr Kind umbringen? Das Kind austragen, nur damit es nach der Geburt stirbt und womöglich leiden muss?
Besonders Maya ist hin und hergerissen. Im ersten Moment erkaltet jedes Gefühl für das Kind in ihrem Bauch und sie will diese Schwangerschaft ohne Hoffnung nur noch abbrechen. Doch dann lässt der Schock langsam nach. Die Gefühle für ihre ungeborene Tochter verändern sich ...
An ihre Mutter schreibt Maja:
„Liebe Mama,
ich bin jetzt am Ende der 14. Schwangerschaftswoche und die Gefühle für unsere Tochter verstärken sich immer mehr. In unserem Fall ist aufgrund der medizinischen Indikation eine Abtreibung in jeder Schwangerschaftswoche möglich, doch eine Entscheidung dafür kann ich mir mittlerweile eigentlich kaum noch vorstellen. Ich fühle seit Tagen eine immer stärkende werdende Liebe in mir. Für Torben, Fynn, aber eben auch für das Kind in meinem Bauch. Für unsere Tochter. Für das neue Leben in mir. Es ist, als würde sich mein ganzer Geist oder, besser gesagt, meine Seele zu unserer Tochter hinwenden. Meine Gedanken kreisen ständig um sie. Die Gefühle sind nun anders als vorher, als ich noch nicht wusste, dass sie so schwer krank ist. Ich empfinde eine tiefe Liebe, die mit Wehmut und Mitleid gemischt ist. Liebe, die ich ihr schenken möchte. So, als hätte ich sie in ihrem Sein, in ihrem Anderssein angenommen ...“
Die Liebe hört niemals auf - Abschied von Mariella
Maya erlebt eine schöne Schwangerschaft, auch wenn es viele traurige Momente gibt. Schließlich bleiben nur noch wenige Tage bis zur Geburt von Mariella. Maya berichtet von der letzten Untersuchung:
„Gestern war ich zur Kontrolluntersuchung in der Klinik. Mariellas Herz schlägt kräftig und sie ist gut entwickelt. Es ist so schön und gleichzeitig so traurig, im Ultraschall zu sehen, dass alles an ihr dran ist. Alles ist perfekt – bis auf ihren Kopf. Gestern habe ich in Großaufnahme gesehen, wie sie an ihrem winzigen Daumen lutscht. Das sah so friedlich aus und ich wusste, wir haben die richtige Entscheidung getroffen. Auch wenn sie bald sterben wird, hat sie in meinem Bauch ihr Leben gelebt und sie hat Liebe empfangen und auch Liebe gegeben.“
Am 2. Februar kommt Mariella schließlich zur Welt. Nach nur zwei Stunden Wehen können Maya und Torben ihre Tochter in den Armen halten. Maya erinnert sich:
„Ich war so glücklich, dass wir uns für sie entschieden haben und sie nun auf meinem Bauch lag und so zufrieden aussah. Mama, sie hatte sogar einen Saugreflex und nuckelte an meiner Brust. Es war aber deutlich zu spüren, dass es nur ein Nuckeln war, sie hat nicht geschluckt […] In diesem Augenblick wusste ich die Antwort auf meine Frage, wieso uns dies passierte. Es war die Liebe. Liebe und Vertrauen haben mich für das Weitertragen entscheiden lassen, und durch die Liebe bin ich Torben viel nähergekommen. Liebe hat uns mit unserem Sohn und nun auch mit unserer Tochter verbunden. Es war merkwürdig, aber ich fühlte mich in diesem schon fast magischen Augenblick eins mit dem Universum. Ich wusste: So wie es jetzt ist, so stimmt es.“
Maya und Torben können ihre kleine Tochter für zwei Tage mit zu sich nach Hause nehmen. Über eine Magensonde füttert Maya ihre Tochter mit kleinsten Mengen ihrer Muttermilch. Jeder Moment mit Mariella ist für die kleine Familie unendlich kostbar. Enge Freunde kommen, um die Kleine kennenzulernen, und eine Fotografin für Sternenkinder besucht die Familie, um Bilder von Mariella mit ihren Eltern und ihrem Bruder zu machen.
Maya schreibt: „Die ganze Zeit war ich glücklich, dass wir so intensive Momente mit unserer Tochter verbringen durften. Mariella wirkte so zufrieden und gab uns das Gefühl, glücklich zu sein. Sie war nicht blind oder taub, wie wir befürchtet hatten. Sie reagierte auf uns, lächelte ihr Engelslachen und strampelte. Sie liebte es, wenn Torben oder ich sie in den Armen hielten und wir ihr etwas vorsangen.“
Doch schließlich kommt der furchtbare Moment, in dem Maya und Torben sich von ihrem Baby verabschieden müssen:
„Torben und ich gingen ins Schlafzimmer und hielten unser Kind gemeinsam im Arm. Eng umschlungen saßen wir auf dem Bett. Mariellas Atmung setzte immer öfter aus und sie wurde langsam blau. […] Ich spürte, dass sie uns liebte und uns nicht verlassen wollte. Doch irgendwann war ihre Kraft zu Ende. Sie wurde schwächer in unseren Armen und es war ein furchtbares Gefühl, nichts für unsere Tochter machen zu können. Wir konnten ihr nicht helfen. Wir drückten sie an uns und sagten ihr, dass es in Ordnung sei, wenn sie uns nun verlassen würde. Außerdem sagten wir ihr immer wieder, dass wir sie lieben und wie glücklich sie uns gemacht hat. Schließlich holte sie noch einmal Luft und atmete danach aus. Dann wurde sie leicht wie eine Feder. Sie ist ganz friedlich in unseren Armen eingeschlafen.
Mama, nun ist Mariella bei dir und du kannst sehen, was für ein Engel unsere kleine Maus ist. Bitte pass gut auf sie auf. Deine Große“
Nach dem Tod von Mariella folgen verzweifelte Monate voller Trauer für Maya, Torben und Fynn. Sie müssen ihre kleine Tochter beerdigen - und langsam wieder zurückfinden, zu einem Leben ohne das Kind, das sie sich so sehr gewünscht haben und keinesfalls verlieren wollten.
Schließlich, mehr als ein Jahr nach dem Abschied von Mariella, wagen Maya und Torben den erneuten Versuch einer Schwangerschaft. Und der Himmel schenkt ihnen ein drittes Baby. Wie Maya und Torben diese Schwangerschaft erlebt haben und wie es ihnen gelingt, die Trauer um Mariella zu verarbeiten, ist vollständig in diesem Buch zu lesen:
„Die kleinen Sterne leuchten immer – Briefe einer Sternenkindmutter“ von Tanja Wenz
(edition riedenburg, ISBN 978-3-903085-57-2)