Hilfe, meine Freunde erziehen ihr Kind anti-autoritär!
Meine Freunde sagen, das Kind solle einfach Kind sein dürfen, aber ich habe das Gefühl, dass keine Erziehung stattfindet und das Kind zu einem egoistischen, kleinen Tyrannen wird. Wie kann ich helfen, ohne zu beleidigen?
Liebe besorgte Freundin,
es ist immer eine Belastungsprobe für die Freundschaft, wenn man sich kritisch zu den Erziehungsmethoden der Freundin äußert. Nicht ohne Grund gibt es den Ausspruch: Soll ich ehrlich sein, oder wollen wir Freunde bleiben!? Deshalb ist es angebracht, das Ganze mit Bedacht anzugehen.
Zunächst stellt sich mir die Frage, worum es Ihnen vorrangig geht: Um ihre Freundschaft, um die Freundin oder das Kind? Wohl möglich ist es alles zusammen. Doch darüber sollten Sie erst mal in Ruhe nachdenken, weil es die Richtung für nächsten Schritte vorgibt. Entscheidend ist darüber hinaus, ob die von Ihnen angedachte Hilfe erwünscht ist? Es kann ja sein, dass Ihre Freundin im Moment gut findet, was sie macht. Dann wird Ihre Skepsis nicht auf offene Ohren stoßen. Dennoch müssen Sie nicht tatenlos bleiben. Um Ihrer Freundin gut zur Seite stehen zu können, möchte ich Ihnen gern einige Gedanken und Anregungen mitgeben.
Berechtigte Sorge
Als Freundin leiden Sie offenbar darunter, Zeugin des entgrenzten Aufwachsens dieses Kindes zu sein. Und wie Sie es beschreiben, scheint es für Sie besorgniserregend und anstrengend zu sein, ihre Freundin mit Kind zu erleben. Außerdem befürchten Sie, dass das Kind eine ungünstige Entwicklung erfährt. All das sind berechtigte Sorgen. Damit ihre Sorge und die gute Absicht dahinter bei Ihrer Freundin ankommen kann, braucht es vielleicht etwas mehr Informationen darüber, wie Ihre Freundin auf diese Vorstellung von Erziehung gekommen ist.
Das Problem mit der Autorität
Als Familientherapeutin erlebe ich immer wieder, dass besonders die Eltern ihren Kindern (zu) viele Freiheiten lassen, die selber als junger Mensch unter einem zu viel an Disziplin, Gehorsam und Regeln gelitten haben. Sie haben die Macht der Erwachsenen als unterdrückend und verformend erlebt. Deshalb nehmen sich diese Kinder oft schon früh vor, es später mit ihren eigenen Kindern anders zu machen. Vielleicht geht es ihrer Freundin auch so, dass sie die am eigenen Leib erlebte Machtausübung ihrer Eltern nicht wiederholen möchte. Doch da das Gegenteil von einem Extrem oft das andere Extrem ist, kommt bei einem zu viel an Freiheit leider auch nicht immer Gutes raus.
Missverstandene antiautoritäre Erziehung
So wie Ihrer Freundin ging es schon Ende der Siebziger und Anfang der Achtzigerjahre des letzten Jahrhunderts vielen Menschen, die genau aus diesem Grund zu Anhängern der antiautoritären Erziehung wurden. Das Problem war jedoch, dass viele die Grundidee dieser Art zu Erziehen und zusammen mit Kindern zu leben gründlich missverstanden haben. Denn die antiautoritäre Erziehung sagt nicht, dass jedes Kind machen kann, was es will. Dabei entstünde und entsteht immer Chaos, was dann auch in manchen vermeintlich konsequent antiautoritär erziehenden Elternhäusern zu erleben war – und auch heute noch ist. Dabei ist das Konzept anders gedacht. Und es lohnt sich bestimmt, wenn Sie sich damit auseinandersetzen, um angeregte Gespräche darüber mit ihrer Freundin führen zu können. Das Wichtigste fasse ich gern schon mal knapp für Sie zusammen.
Was antiautoritär wirklich bedeutet
Einer der bekanntesten Vertreter der antiautoritären Erziehung ist Alexander S. Neill. Für ihn stand das Glück eines Kindes vor seinem vermeintlichen späteren Erfolg im Leben. Er wollte Kindern ein Aufwachsen ermöglichen, in dem sie ein Interesse am Leben entwickeln können und ihre Persönlichkeit entfalten können, ohne dass Erwachsene ihnen unnötig ihren bevorzugten Weg vorzeichnen oder vorgeben. Dazu sollten sie einen Grad an Freiheit erhalten, die spätestens dort aufhört, wo Kinder gegen die persönlichen Rechte anderer verstoßen. Und dies ging selbst an Neills antiautoritär konzipierter eigenen Schule „Summerhill“ nicht ohne Regeln.
Gesunden Menschenverstand nicht vergessen
Das Konzept hat sich ausführlich damit befasst, wie das Miteinander gestaltet sein sollte, damit aus Freiheit nicht „Zügellosigkeit“ wird. Und dazu gehörte der Anspruch, nicht nur einer Theorie zu folgen, sondern weiter den gesunden Menschenverstand zu benutzen, wenn man mit der Erziehung von Kindern befasst ist. Gelungene antiautoritäre Erziehung fällt außerdem nicht vom Himmel. Ein Buch darüber zu lesen, ist erst der Anfang. Wer – wie die meisten von uns - nicht so frei aufgewachsen ist, muss erst herausfinden, wie die Umsetzung im wahren Leben aussehen kann. So geht es vermutlich auch Ihrer Freundin.
Tipps für das Gespräch mit der Freundin
Vielleicht hat auch sie den Freiheitsgedanken der antiautoritären Erziehung falsch aufgefasst. Und das geht jetzt offensichtlich nach hinten los. Doch offenbar möchte sie einfach ihr Kind nicht unterdrücken. Und diese gute Absicht könnte ein Aufhänger für ein Gespräch zwischen Freundinnen sein.
Achten Sie die gute Absicht hinter ihrem Verhalten, dürfen Sie auch achtsame Fragen stellen, die vielleicht die Augen ihrer Freundin etwas dafür öffnen, dass sie selbst auch Bedürfnisse und Rechte hat, die ihr Kind respektieren lernen muss, um später nicht ständig (unbewusst) die Grenzen anderer zu übertreten und damit ständig anzuecken. Ein Kind kann doch auch Kind sein, ohne dass es ihrer Freundin oder anderen auf der Nase rumtanzen muss! Vielleicht weiß ihre Freundin nur noch nicht, wie sie das herstellen kann. Das Konzept der „neuen Autorität für Eltern“ gibt hier sehr wertvolle Anregungen, wie Erziehung ohne Gewalt durch eine gute Präsenz von Eltern gelingen kann.
Darüber können Sie mit ihr ins Gespräch kommen, in dem Sie sie zum Beispiel fragen, warum ihr das so wichtig ist, dass das Kind Kind sein kann, und was genau das für ihre Freundin bedeutet. Was soll ihr Kind dürfen und erleben, was ihre Freundin nicht erleben konnte? Und wie steht der Vater des Kindes dazu? Das sind natürlich sehr persönliche Fragen, die Zweisamkeit voraussetzen. Und es kann sein, dass ihre Freundin diese Fragen (noch) nicht mit ihnen zusammen bewegen möchte. Dann müssen Sie das achten und sollten sich zurückhalten. Sie sind ja nicht die Therapeutin oder Erziehungsberaterin ihrer Freundin, sondern eben eine Freundin.
Auf die eigenen Bedürfnisse achten
Was Ihre eigenen Bedürfnisse und ihren Anspruch an ihre Freundschaft angeht, dürfen Sie dennoch getrost auf Ihre Bedürfnisse achten und diese formulieren. Zum Beispiel so: „Ich würde mich in Zukunft gern nur noch mit dir allein treffen.“ Wenn sie fragt warum, können Sie sagen: „Dann habe ich mehr von dir und wir sind ganz ungestört.“ Gibt sie sich damit nicht zufrieden, liegt es bei Ihnen, ob Sie eine deutliche Grenze ziehen wollen und ihr sagen: „Es macht mir zu schaffen, zu sehen, wie wenig Orientierung du deinem Kind gibst und wie es sich deswegen zu einem kleinen Egoisten zu entwickeln scheint. Ich erlebe dich dann ganz anders, als wenn wir Freundinnen zusammen sind. Und ich vermisse, wie es ohne Kinder war.“
Der Freundin Zeit geben
Vielleicht schafft das zunächst etwas Abstand zwischen Ihnen. Doch das würde auch passieren, wenn Sie nichts sagen. Mit dem Unterschied, dass ihre Freundin nur raten kann, was der Grund für Ihren inneren Rückzug ist und sie sich möglicherweise abgelehnt fühlt. Und dass wollen Sie ja gerade nicht. Sonst würden Sie sich nicht so viele Gedanken um sie und ihr Kind machen. Wenn Ihre Freundin Ihr Gespräch verdaut hat, wird sie von selber wieder auf sie zukommen.
Es kann sein, dass sie dafür erst mal Zeit braucht. Sich aus ihren alten Fesseln zu lösen und einen gesunden Umgang mit elterlicher Autorität zu finden, kann dauern. Oft braucht es professionelle Hilfe. Doch die müsste sie selber annehmen wollen. Denn das ist ihre Sache.
Ich wünsche Ihnen, dass Ihre Freundschaft so gut trägt, dass sie auch ein liebevoll kritisches Wort aushält.
Ihre Marthe Kniep
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