Lieblingskind: Wenn Eltern ein Kind mehr lieben, als das andere
Unsere Expertin, Familientherapeutin Marthe Kniep erklärt, warum es immer wieder zu dieser Bevorzugung kommt und wie in Familien wieder das Gleichgewicht hergestellt werden kann.
Die meisten Eltern haben ein Lieblingskind! Das behauptet zumindest eine Studie, die Eltern mit mehreren Kindern dazu befragt hat, ob sie eines ihrer Kinder bevorzugen. Die erstaunliche Antwort ist: 70 Prozent der Väter und 65 Prozent der Mütter gaben zu, dass sie eine Vorliebe für ein bestimmtes Kind bei sich wahrnehmen. Und das ist nur die Anzahl derer, die sich getraut haben, auch vor Wissenschaftlern zu ihrer Präferenz zu stehen. Es ist deshalb anzunehmen, dass es sogar noch mehr sind.
Welches Kind wird von wem bevorzugt?
Die Studie kam zu einem Ergebnis, das auch immer wieder in der therapeutischen Praxis zu beobachten ist: Der erste Platz gehört bei Müttern häufig dem erstgeborenen Sohn, bei Vätern gern der jüngsten Tochter, wobei Mutter und Vater oft eine unterschiedliche Wahl treffen. Immerhin verteilt sich die Gunst dann auf wenigstens zwei Kinder. Einfluss auf die zu Beginn oft unbewusste Wahl haben laut Studie neben der Geburtenreihenfolge auch Aussehen und Intelligenz. Viele „Lieblingskinder“ erhalten ein erhöhtes Maß an Zuwendungen aller Art, was natürlich für die anderen schmerzlich sein kann, denen das interne Ranking nicht immer verborgen bleibt, selbst wenn Mutti und Vati sich große Mühe geben, nach außen gerecht zu sein.
Warum bevorzugen wir ein Kind?
Ein Teil der Begründung für bestimmte Vorlieben liegt in unseren Tausende Jahre alten Grundstrukturen, die auch heute noch wie eine Art Steinzeitsoftware im Hintergrund laufen. So finden wir beispielsweise attraktiver, wer uns ähnlich ist. Denn was wir kennen, damit können wir meist recht gut umgehen und finden es sympathisch. Außerdem geht keine unberechenbare Gefahr davon aus. Willkommen ist auch, wenn ein Kind Vitalität ausstrahlt. Das signalisiert: Dieses Kind kann es schaffen, sich in der rauen Welt zu behaupten. Es „lohnt“ sich, es durchzubringen. Und ein männliches Kind erfreut auch heute noch erstaunlich oft als Stammhalter. Zartheit und Schönheit bei Mädchen hingegen können als schützenswert erlebt werden. Alles Gründe, warum der elterliche Blick manchmal auf ein Kind besonders freundlich fällt.
8 Dinge, welche die Mutter-Tochter-Beziehung vergiften
Doch es gibt noch andere Gründe, die mit unseren Erfahrungen aus der jüngeren Vergangenheit zu tun haben. Denn es ist so, dass wir in unseren Kindern bestimmte Eigenschaften sehen, mit denen wir etwas verbinden. Teilweise erinnern sie uns an einen oder mehrere unserer Ahnen – oft an ein Elternteil oder Großelternteil. Manchmal sind Kinder aber auch uns selbst oder dem Partner sehr ähnlich. Ist so eine Ähnlichkeit willkommen, kann sie sich in einem Gefühl besonderer Nähe zu diesem Kind ausdrücken. Lehnen wir sie jedoch ab, wirkt sich das oft negativ auf die Beziehung zu dem Kind aus, auch wenn es überhaupt nichts dafür kann.
Zu viel des Guten
Um allen Kindern gerecht zu werden, ist es deshalb hilfreich, sich darüber klar zu werden, welche Eigenschaften des Kindes zum einen zu besonderer Nähe führen, die im Übrigen auch nicht nur ein Segen sein muss, wenn sie zu viel des Guten ist. Wird beispielsweise ein Vater einer Tochter durch sie an seine geliebte aber leider kürzlich verstorbene Mutter erinnert, kann sich die Tochter dadurch auf einem unsichtbaren Thron wiederfinden, der sie eigentlich total überfordert und auch Auswirkung auf die Beziehung der Eltern haben wird. Es sind aber auch andere Dynamiken denkbar: Ist die Beziehung der Eltern zum Beispiel etwas abgekühlt, kann sich die Mutter bei ihrem erstgeborenen Sohn ein Maß an Zuwendung holen, dass sie auf partnerschaftlicher Ebene vermisst. Zunächst wird das Kind die Aufmerksamkeit geben. Später wird es spüren, dass es unangemessen oder zu viel ist, was die Mutter bei ihm sucht. Das führt teilweise zu großen Ablösungskonflikten.
Ungeliebte Eigenschaften
Zum anderen gibt es aber auch Wesenszüge an einem Kind, die Eltern irritieren, stören oder sogar Gefühle der Ablehnung in ihnen aufsteigen lassen können. Vor allem, wenn sie sich „unerwünscht“ verhalten. Doch oft gibt es einen guten Grund dafür. So halten Kinder ihren Eltern manchmal unbewusst einen Spiegel vor und konfrontieren sie durch ihr Verhalten mit Themen, zu denen sich die Eltern nicht angemessen reif oder klar verhalten.
Rastet ein Kind beispielweise bei jeder Kleinigkeit aus, kann es sein, dass ein Elternteil selber sehr angespannt und wenig belastbar ist oder dass der Elternteil seine eigene Aggression noch nicht angemessen bewältigt und beispielsweise (noch) unterdrückt. Dann zeigt das Kind mit seiner Wut: Da stimmt was nicht bei euch! Guckt da mal hin, liebe Eltern! Was das Kind unbewusst aus Liebe zu seinen Eltern macht (Spiegel vorhalten), kommt leider trotzdem oft nicht so gut an.
Manchmal sind es auch die ungeliebten Seiten am Partner oder der eigenen Eltern, die bei einem Kind „durchschlagen“. So mancher hört sich dann Sätze sagen, wie: Oh nein. Da ist er genau wie sein/mein Vater! Oder: Himmel. So war ich früher auch. Und ich hatte es so schwer damit.
Doch kein Kind sollte mit dem Gefühl leben müssen, dass etwas an ihm falsch oder nicht liebenswert ist. Deshalb brauchen Kinder Eltern, die bereit sind, sich mit genau diesen oft unbewussten Prozessen auseinander zu setzen, die bisher Distanz zu dem einen Kind geschaffen haben.
Wie Eltern damit umgehen können
Es ist normal, wenn man sich in unterschiedlichen Lebens- und Entwicklungsphasen aller Familienmitglieder unterschiedlich stark zueinander hingezogen fühlt oder eben auch phasenweise mal mehr oder mal weniger innere Distanz zu einem Kind hat, als vielleicht früher. Das bedeutet aber nicht unbedingt, dass das unsichtbare Band zwischen Eltern und Kindern Schaden genommen hat. Im besten Fall ist es Ausdruck eines gesunden Ablösungsprozesses, wie er zum Beispiel in der Pubertät sehr deutlich wird.
In jedem Fall ist es ratsam, wenn Eltern hinterfragen, was sie vielleicht selber zu Streit, Eifersucht oder Konkurrenz innerhalb der Familie beitragen, indem sie ein Kind bevorzugen oder ein anderes hintenanstellen, wenn es darum geht, die elterlichen Ressourcen auf die Kinder zu verteilen. Zu denen gehören vor allem Liebe, Aufmerksamkeit, Zeit und Fürsorge. Besonders stark wahrgenommen werden von Kindern auch „Extrawürste“ - wer sie bekommt und wer nicht. Doch solche Goodies entscheiden nie allein über das Gefühl der Annahme bei Kindern durch ihre Eltern.
Am wichtigsten ist immer, dass ein Kind fühlt: Meine Eltern lieben mich, wie ich bin. Wie das im Alltag vermittelt werden kann, kann sich gegenüber jedem Kind ganz unterschiedlich ausdrücken. Und das ist die Kunst: Immer wieder jeden Tag neu herauszufinden, welchen angemessenen Ausdruck für unsere elterliche Liebe wir für jedes einzelne Kind finden.
Beraten lassen bei Problemen
Manchmal will sich das Gefühl der Gerechtigkeit gegenüber den Kindern aber nicht so recht einstellen, auch wenn Eltern wirklich um eine Lösung bemüht sind. In diesem Fall kann der Weg zur Erziehungsberatungsstelle oder zum Familientherapeuten hilfreich sein, um zum einen zu schauen, was bisher einer guten Beziehung beider Elternteile zu allen Kindern im Wege steht. Und zum anderen herauszufinden, welche Entwicklungsaufgaben innerhalb der Familie noch bei Kindern und Eltern bewältigt werden müssen, damit sich das Gefühl der Annahme bei allein einstellen kann. So eine gemeinsame Beschäftigung mit den Familienthemen kann dann eine sehr stärkende Erfahrung für die Familie sein und jedem Kind wieder einen guten Platz im Familiensystem geben.
Text: Marthe Kniep
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