Schulangst: Hilfe, mein Kind hat Angst in die Schule zu gehen
Der Übergang von zu Hause zur Schule macht vielen Kindern zu schaffen. Welche Gründe es für Schulangst geben kann und was Eltern für ihre Kinder tun können, erklärt Familientherapeutin Marthe Kniep.
Vor allem der Schulbeginn ist in vielerlei Hinsicht ein Sprung ins kalte Wasser, der nicht nur den sensibleren Kindern zu schaffen macht. Auch wer schon länger zur Schule geht, kann Sorgen haben, die den Weg zur Schule zur unüberwindbaren Hürde machen. Wenn ältere Kinder nicht zur Schule gehen wollen, sind die Gründe dafür jedoch meist etwas anders gelagert als bei den Kleineren.
Manchmal können Kinder jedoch gar nicht die konkreten Gründe formulieren, weil die Worte dafür fehlen oder ihr Problem zu schwer wiegt. Ein genauer Blick und viele Gespräche sind deshalb wichtig, wenn man den Auslösern für die Angst auf die Schliche kommen will und als Familie das Kind darin unterstützen möchte, den Weg zur Schule wieder ohne heftige Angstsymptome zu schaffen.
Die Nöte der Kinder und welche Unterstützung sie brauchen ist immer ganz individuell. Doch es gibt einige Probleme, die sich in den vergangenen Jahren besonders häufen und vermehrt in den Praxen von Kinder-, Jugend- und Familientherapeuten auftauchen. Oft entsteht Schulangst aus der Summe mehrerer der folgenden belastenden Umstände, die das Kind dann nicht mehr allein bewältigen kann.
Angst vor dem Unbekannten
Die Einschulung wird vielen als ganz tolle Sache „verkauft“ und teilweise groß gefeiert. Doch wie mulmig manchem Kind schon beim Gedanken daran ist, wird oft unterschätzt. Dabei ist es ganz menschlich, wenn Ängste entstehen, weil man noch keine Idee hat, was einen in Wirklichkeit erwartet. Und das ist viel: ein ganzer Berg neuer Abläufe, Menschen und Anforderungen. Da passiert es ganz leicht, dass Kinder sich in der großen Welt plötzlich klein oder allein und ohne den geliebten elterlichen Schutz fühlen. Nicht allen Kindern gelingt es, hier kraftvoll allen Mut zusammen zu nehmen und den Weg trotzdem zu beschreiten. Manche brauchen da etwas mehr Unterstützung, damit die Angst nicht überhandnimmt.
Tipp: Versichern Sie ihrem Kind, dass Sie es ernst nehmen in seiner Angstund sich um Hilfe kümmern. Wenn die Angst durch die Eltern gewürdigt wird, fällt eine Veränderung leichter. Und reden Sie nichts schön, wovor ihr Kind Angst hat. Also kein: Ist doch gar nicht schlimm da. Ich fand die alle ganz nett. Fragen Sie stattdessen: Wegen was machst du dir Sorgen? Was ist denn am doofsten? Kann es sein, dass das noch sehr anstrengend für dich ist? Was können wir Eltern tun, um dich zu unterstützen? Und was sollen wir auf keinen Fall (mehr) machen?
Kummer und Sorgen
Wer Sorgen hat, nimmt sie überall mit hin. Doch manche Kinder wollen verständlicherweise nicht, dass alle mitkriegen, was los ist. Sie wollen nicht darauf angesprochen werden und dann das Gefühl haben, lügen zu müssen, um ihre Sorge für sich behalten zu können. Vielleicht gibt es auch die Befürchtung, sich schwach und weinend zeigen zu müssen, obwohl keiner wissen soll, wie es einem geht. Was sollen sie also tun? Die Angst davor, was die Sorgen mit einem in der Schule machen, kann in solchen Zeiten riesengroß werden.
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Tipp: Versuchen Sie viel Zeit für Gespräche mit ihrem Kind zu schaffen. Wenn ihr Kind einverstanden ist, sprechen Sie mit dem Lehrer darüber und vertrauen ihm an, dass ihr Kind gerade besorgt oder traurig ist und vielleicht etwas mehr Unterstützung oder Schonraum benötigt als sonst. Bieten Sie ihrem Kind an, dass sie gemeinsam einen Fachmann für sein Thema oder das der Familie aufsuchen, damit es die beste und schnellste Hilfe bekommt, die möglich ist. Manchmal helfen auch Gespräche mit dem Vertrauenslehrer der Schule.
Belastete oder kranke Eltern
Haben Kinder belastete oder kranke Eltern, gehen sie nicht gern von zu Hause weg. Sie haben Angst, dass dann etwas passieren könnte. Sagen diese Kinder: „Ich will heute nicht zur Schule!“ heißt das also nicht automatisch, dass es an der Schule liegt. Manchmal ist es auch der Schritt von zu Hause weg, der das Problem verstärkt. Doch das ist für Kinder oft nicht so deutlich zu benennen. Und wenn sie ahnen, woran es liegt, würden sie ihre Eltern damit nicht belasten wollen. Sie geben einen Vorwand an, der mit der Schule zu tun hat.
Bei Kindern mit kleineren Geschwistern kann auch Neid dahinterstecken, dass das Geschwister bei Mama bleiben darf, während sich das ältere Kind in die Schule abgeschoben fühlt.
Tipp: Die richtige Antwort auf „Ich will da nicht hin!“ ist deshalb die Frage: „Was willst du denn, was in der Schule nicht möglich ist? Wer oder was fehlt dir?“ Da belastete Eltern leider nicht immer die Kraft für solche Gespräche haben, ist hier besonders wichtig, dass die Familie fachliche Hilfe in Anspruch nimmt. Für Kinder ist es schon entlastend, wenn sie hören, dass sich die Eltern helfen lassen. Dann können die Kinder sich von der belastenden Vorstellung freimachen, dass sie selbst ihren Eltern helfen müssten – was sie nicht können. Ebenfalls entlastend kann es sein, wenn Kinder in dieser Zeit viel bei Freunden oder lieben Verwandten sind, wo sie etwas durchatmen können von den Problemen zu Hause.
Beängstigende Lehrer
Nicht jedem Lehrer ist sein Beruf eine Berufung. Und man muss es leider sagen: Nicht jeder ist für diesen Beruf geeignet, der ihn versucht auszuüben. Manche Lehrer ahnen überhaupt nicht, was sie mit ihrem Verhalten bei Kindern auslösen. Die Angst vor den vernichtenden Sprüchen einer Lehrkraft, vor den Schreien einer überforderten Lehrerin oder dem fehlenden Schutz durch eine ausgebrannte Lehrperson macht Kindern Angst vor dem nächsten Schultag. Meistens ändert sich das erst ab Klasse zehn, wenn der Selbstwert und die Erfahrung sich so aufgebaut haben, dass man sich als Schüler nicht mehr alles bieten lässt. Wer noch nicht so weit ist, muss manchmal vor seinem Lehrer beschützt werden.
Tipp: Erzählt ihr Kind ihnen wiederholt von lauten oder erniedrigenden Aussprüchen einer Lehrkraft oder von unterlassener Hilfe in ernsten Konflikten? Hat es Angst vor dem nächsten Tag, weil der Unterricht mit dieser Person ansteht? Dann fackeln Sie nicht lange und sprechen Sie mit der Klassenleitung und Schulleitung. Das muss sofort aufhören!
Bedenken Sie dabei, dass man Menschen nur selten ändern kann. Deshalb vertrauen Sie vor allem darauf, was Sie selber für Ihr Kind ändern können und suchen Sie nach Auswegen. Zum Beispiel eine andere Klasse oder sogar Schule.
Überforderung
Den meisten Kindern mit Schulangst ist es in der Schule zu laut, unübersichtlich, ruppig und somit zu schwer, sich in dieser Umgebung zu konzentrieren. Sie schaffen es kaum, sich in kurzer Zeit an all die neuen Dinge zu gewöhnen und dabei noch Leistung zu bringen. Ihr Fell wird dadurch von Tag zu Tag dünner, wenn es darum geht, soziale Probleme bewältigen zu müssen. Ihre Verletzlichkeit steigt, Ärger kann schlechter verarbeitet werden und das Lernen wird immer schwerer. Die Kinder selber merken das sehr schnell. Doch sie sagen es nicht immer gleich zu Hause. Und so steigt der innere Druck, bis er sich kaum mehr zu bewältigen anfühlt.
Tipp: Stellen Sie ihren Anspruch an das Kind und seine Leistung etwas zurück. Freuen Sie sich über die Sachen, die ihr Kind kann, und schauen Sie weniger darauf, was noch alles „fehlt“. Konzentrieren Sie sich stattdessen mehr darauf, die sozialen Beziehungen des Kindes in der Klasse zu stärken und verabreden es mit Mitschülern, die ihr Kind mag. Wer auf diese Weise Freundschaften in der Klasse entwickeln kann, findet sich leichter zurecht.
Leistungsdruck
Wir leben in einer Zeit, in der Kinder mit der Muttermilch aufzusaugen scheinen, dass sie schon früh für ihren Erfolg im Leben selber verantwortlich sind. So machen sich schon Grundschüler enormen Druck, dass es schulisch laufen muss, wenn sie nicht als „Versager“ enden wollen. Das ist ein gesellschaftliches Phänomen, das nicht immer vom Elternhaus ausgehen muss. Kinder hören überall, dass außer Abi eigentlich nichts infrage kommt. Und viele werden probehalber auf diese Schiene geschoben, obwohl sie eigentlich nicht alle Fertigkeiten dafür mitbringen oder sich extrem anstrengen müssten, um es zu schaffen. Gut gemeint. Für viele jedoch ein langer Leidensweg. Denn wenn die Perspektive ist, jahrelang durchhalten zu müssen, werden viele Kinder darüber krank. Wie schade um Kindheit und Jugend. Und wofür?
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Tipp: Schauen Sie weniger auf die Beurteilungen der Leistung und mehr darauf, was gut klappt und dem Kind Spaß macht. Vor allem in der Grundschule ist erst mal nicht vorrangig wichtig, dass das Kind gute Leistungen bringt, sondern dass es in der Tagesstruktur mitkommt und Freunde findet. Das gilt auch noch für die Zeit nach der Grundschule.
Ist ihr Kind (rückblickend) zu früh eigeschult worden, erlauben Sie ihm rechtzeitig eine Ehrenrunde, um ein Jahr mehr zur Reifung zur Verfügung zu haben und dann den Anforderungen altersgemäß besser nachkommen zu können. Am besten schon in der Grundschulzeit.
Vertrauen Sie auf die Selbsteinschätzung des Kindes. Was traut es sich zu? Wie sehr ist es bereit sich anzustrengen und wie lange kann es das durchhalten? Ist es nicht vielleicht auch gut, wenn es sich an einer Stadtteilschule oder Gesamtschule im Mittelfeld oder gar bei den recht guten Schülern wiederfindet, statt mit viel Aufwand und Ärger am Gymnasium immer um Fünfen zu bangen?
Angst vor Ablehnung und Ausgrenzung
Werde ich von den anderen so angenommen, wie ich bin? Das wünscht sich jedes Kind. Aber Schule kann ein raues Pflaster sein. Schon früh prallen leichtfertig daher gesagte Sprüche von anderen Schülern auf Kinder ein, wie „Du bist voll hässlich“ oder: „Du bist so dumm. Hau ab!“ Viele Kinder nehmen sich das zu Herzen, statt drauf zu pfeifen.
Wer sich erstmal als „gut zu ärgern“ herausstellt, muss viel einstecken. Das kann auch schon in der Grundschule in Mobbing ausarten. Viele Kinder leiden auch extrem darunter, wenn sie vor der Kasse ausgelacht werden, weil sie zum Beispiel im Unterricht etwas falsch gemacht haben. Die Wirkung solcher Erlebnisse ist nicht zu unterschätzen.
In der Pubertät wird das noch mal besonders Thema, weil das Selbstwertgefühl oft in den Keller gesunken ist und man noch nicht weiß, wer oder wie man eigentlich werden will. Das Gefühl, am Rand zu stehen, kann schwer wiegen.
Tipp: Stärken Sie ihr Kind, wo immer es geht. Verkneifen Sie sich erstmal Bemerkungen wie: Vielleicht bist Du ja auch ein bisschen schuld daran. Wenn das so wäre, weiß ihr Kind das selbst. Es braucht zu allererst Rückmeldungen wie: Das war aber gemein/doof/unfair. Das kann ich verstehen, wenn du da traurig/wütend/ratlos bist. Ergreifen sie erstmal Partei für das Kind, wenn es sich Ihnen anvertraut. Erst später ist vielleicht mal eine Analyse der Situation gut, um zu schauen, was das eigene Kind hätte anders machen können. Wichtig: Erst fragen, ob das Kind Tipps haben möchte. Nicht überstülpen. Vielleicht wollte ihr Kind ja auch nur erzählen, was passiert ist.
Im Fall von Mobbing und dessen Vorstufen sprechen Sie gleich mit dem Klassenlehrer, der Schulleitung und einem Experten für dieses Thema, um Ihrem Kind so schnell es geht aus der Situation herauszuhelfen.
Zu viele Reize
Nicht nur Kinder mit ADHS sind durch Schule schnell überreizt. Das kann auch anderen Kindern so gehen. Denn das Lernen und Spielen in großen Gruppen, deren Mitglieder man sich nicht ausgesucht hat, erfordert maximale Aufmerksamkeit und Kraft von Kindern. Und oft fehlen Rückzugsmöglichkeiten oder genug Betreuer, die für einen weitgehend reibungslosen Ablauf sorgen.
Vielen ist die Zeit in der Schule auch zu lang. Schon die Zeit bis um eins fordert manche Kinder über Gebühr. Und dann noch Hort? Das steht einigen richtig bevor, die dann Symptome wie Bauch- oder Kopfschmerzen und Konzentrationsprobleme als Ausdruck der Ängste zeigen.
Tipp: Wenn es nicht unbedingt sein muss, ermöglichen Sie dem Kind nach dem Unterricht nach Hause zu kommen und nicht mehr in die Nachmittagsbetreuung zu müssen, wo oft auch sehr viel ältere Kinder sind, die Kleinere beunruhigen. So haben Kinder genug Zeit, für Erholung, Ruhe oder Bewegungsausgleich zu sorgen. Das löst die körperliche Anspannung, die durch Ängste erzeugt wird.
Schauen Sie, ob es in der Umgebung Schulen gibt, die in kleinen Klassen unterrichten. Kleiner ist überschaubarer und macht weniger Angst.
Rechtzeitig Hilfe holen!
Es ist fast immer sinnvoll, die Schule einzubeziehen, damit Eltern und Lehrer einen gemeinsamen Plan entwickeln können, wie sie das Kind am besten unterstürzen können. An manchen Schulen gibt es sehr gute Vertrauenslehrer, die dem Kind in der Schule zur Seite stehen können. Wenn aber auch private Angelegenheiten bei den Ängsten der Kinder eine Rolle zu spielen scheinen, kann es ratsam sein, Beratung außerhalb der Schule zu suchen.
Zwingen Sie Ihr Kind nicht mit Gewalt in die Schule. Wenn es nicht anders möglich ist, gehen Sie zum Kinderarzt, schildern Sie Ihre Situation und lassen sie das Kind ein paar Tage zu Hause, um sich zu besinnen und nach einer Lösung zu suchen. Das ist natürlich nur eine kurzfristige Lösung, die sich für das Kind nicht wie ein Gewinn anfühlen sollte, sondern mehr wie eine Auszeit. Und wie eine große Ausnahme!
Vertrauen Sie sich einem Fachmann/einer Fachfrau an, der/die auch dem Kind glaubhaft vermitteln kann, mit der ganzen Familie nach einer Lösung suchen zu wollen. Und handeln Sie bei ersten Anzeichen von Angst, statt Wochen vergehen zu lassen, um dem Kind und auch sich selbst kein zu langes Leid zuzumuten.
Bei Schulangst sind die Eltern mehr gefragt als sie selbst zunächst vermuten. Und es kann ein bisschen dauern und Gedulderfordern, bis die Ängste des Kindes sich lösen. Aber geben Sie nicht auf. Ihr Kind braucht Sie jetzt besonders! Auch, wenn es vielleicht sonst schon sehr selbständig ist.
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