Häusliche Gewalt

Gewalt gegen Eltern: Wenn Kinder ihre Eltern schlagen

Ein Kind, das seine Eltern schlägt – erst einmal unvorstellbar. Aber Gewalt von Kindern gegen Vater oder Mutter kommt auch in Deutschland immer wieder vor.​

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Am Anfang sind es Beschimpfungen. Dann wird gedroht. Schließlich beginnen die Tritte, das Schubsen, das Schlagen. In der Fachsprache „Parent Battering“ genannt, bezeichnet das „Fertigmachen“ der Eltern eine Form von Gewalt, die von Kindern ab acht Jahren ausgeübt wird. Dementsprechend hat sie nichts mit der Trotzphase zu tun, in der Kinder zwischen dem zweiten und dem sechsten Lebensjahr ihre Grenzen austesten, und ist auch nicht mit dem rebellischen Verhalten von Pubertierenden vergleichbar. Beim Elternmissbrauch geht es um eine Umkehr der Hierarchie, das Kind wird Chef der Familie. Diese Rolle ist für die meisten Kinder überfordernd, gleichzeitg aber sehr reizvoll.

Parent Battering ist immer noch ein Tabuthema in Deutschland

Kinder, die ihre Eltern misshandeln, sind keine Seltenheit in Deutschland: Laut Expertenschätzungen sind acht bis 15 Prozent der Familien betroffen, wobei die Dunkelziffer als weitaus höher eingestuft wird. Mütter und Väter reden aufgrund von Schamgefühlen selten darüber, das Thema wird immer noch tabuisiert. Stattdessen versuchen Eltern oft alles, um die Illusion einer harmonischen Familie aufrechtzuerhalten.

Wir haben mit Dr. Wilhelm Rotthaus, Arzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie, gesprochen. Rotthaus leitete jahrelang die Kinder- und Jugendpsychiatrie in Viersen in Nordrhein-Westfalen.

Herr Rotthaus, wer ist eher betroffen: Mutter oder Vater?

Die Gewalt der Kinder betrifft mehrheitlich die Mütter. Das Verhältnis Mütter zu Väter beträgt etwa vier zu eins. Am stärksten betroffen sind alleinerziehende Mütter. In einer amerikanischen Studie berichteten 29 Prozent der alleinerziehenden Mütter, Gewalterfahrungen seitens eines ihrer Kinder gemacht zu haben. 

Wie kommt es, dass häufig alleinerziehende Mütter betroffen sind?

Ein möglicher Grund kann Überforderung sein. In anderen Fällen handelt es sich um psychisch kranke Eltern, die aufgrund von Drogenmissbrauch oder – besonders häufig – von Depressionen keine Energie für erzieherische Grenzsetzungen und die daraus resultierenden Konflikte haben. Nicht selten machen sich passiv-depressive Eltern von ihrem Kind emotional abhängig. Sie ha­ben Angst, das Kind zu verlieren, und trauen sich deshalb nicht, sich seinen Forde­rungen zu widersetzen oder sein Verhalten einzugrenzen. Zugleich werden alle Ab­lösungsversuche des Jugendlichen durch Nachgiebigkeit aufgefangen.

Gewalt gegen Eltern: Wenn Kinder ihre Eltern schlagen
Gewalt gegen Eltern: Wenn Kinder ihre Eltern schlagen Foto: iStock

In welchen Gesellschaftsschichten tritt Gewalt von Kindern gegen ihre Eltern auf?

Anders als bei den anderen Formen innerfamiliärer Gewalt, die in Unterschicht- und so genannten Multiproblem-Familien gehäuft auftreten, beobachtet man Elternmisshandlung mit etwa gleicher Häufigkeit in Familien der Unter-, Mittel- und Oberschicht.

Und sind es eher Mädchen oder Jungen, die Gewalt an den Eltern ausüben?

Bis zu einem Alter von 13-14 Jahren scheint die Zahl von Mädchen und Jungen, die ihre Eltern misshandeln, etwa gleich hoch zu sein, während mit höherem Alter die Zahl der Jungen deutlich ansteigt.

Wie genau zeigt sich die Form der Gewalt? 

Grundsätzlich liegt eine Misshandlung von Eltern durch ihr Kind vor, wenn ein Kind mit seinem Verhalten seinen Eltern absichtsvoll physischen, psychischen oder finanziellen Schaden zufügt und damit das Ziel verfolgt, Macht und Kontrolle über die Eltern zu gewinnen. Es handelt sich einerseits um körperliche Gewalt, wie drohen, schlagen, treten, werfen von Gegenständen, selten Waffengewalt mit der Folge erheblicher Verletzungen, zum anderen um psychische und emotionale Gewalt. Dazu gehören Beschimpfungen, Kritisieren, Hasstiraden, Äußern von Verachtung. Die finanzielle Gewalt äußert sich in dem Erpressen von Geld, sowie dem Entwenden oder Zerstören von Wertgegenständen. 

Warum misshandeln Kinder ihre Eltern?

Es gibt sehr unterschiedliche Faktoren, die dazu führen können, dass ein Kind in der Familie das Sagen hat und auch Gewalt anwendet. Hintergrund ist sicherlich ein gesellschaftlicher Wandel, der die Grundlagen des über die letzten drei bis vier Jahrhunderte gültigen Erziehungskonzeptes infrage gestellt hat. Die Folge ist eine weit verbreitete Erziehungszurückhaltung und Erziehungsunsicherheit. Im Weiteren können psychische und körperliche Erkrankungen der Eltern, wie schon beschrieben, eine Rolle spielen ebenso wie tief greifende Konflikte unter den Eltern mit der Folge, dass sie wechselseitig ihre Erziehungsmaßnahmen hintertreiben. Darüber hinaus gibt es Familien, in denen das Verhalten des Vaters, der selbst Gewalt gegen seine Frau anwendet, als Modell dient. Wenn gewalttätige Jugendliche selbst als kleinere Kinder physisch, sexuell oder emotional missbraucht worden sind, ist die Misshandlung der Eltern für sie ein Weg, etwas von der verlorenen Macht und Kontrolle zurück zu gewinnen. Meist haben diese Jugendlichen ein geringes Selbstwertgefühl und leiden an ihrer Verletzlichkeit und Isolation. Sie versuchen verzweifelt, die ersehnte Aufmerksamkeit und emotionale Zuwendung ihrer Eltern zu bekommen.

Wie gehen Eltern damit um, wenn sie von ihrem eigenen Kind Gewalt erfahren?

Das führt dazu, dass die Familien sich isolieren, Kontakte zu Freunden und Bekannten abbrechen, damit nicht bekannt wird, was in ihrer Familie passiert. Diese Isolation ist dann wieder ein wichtiger Faktor, der die Gewalt aufrechterhält. Die meisten Eltern neigen dazu, die Gewalt seitens ihres Kindes zu verleugnen, zu verschleiern und zu entschuldigen. Sie schützen ihr Kind, obwohl sie erhebliche Gewalt erleiden, und treffen gegen diese Gewalt keinerlei Maßnahmen. Meist können sie sich nicht vorstellen, dass es noch andere Familien gibt, in denen Ähnliches geschieht. Sie halten sich für die Einzigen, die so etwas erleben müssen. Scham spielt eine große Rolle. Es sind Fälle be­kannt, in denen nach dem Angriff eines Jugendlichen mit daraus entstandenen schweren Verletzungen eines Elternteils - beispielsweise durch einen Treppensturz - nur auf Drängen des Krankenhauses eine Anzeige bei der Polizei erstattet wurde, die die Eltern jedoch nach wenigen Tagen wieder zurückzogen.

Was können Eltern, denen körperliche und/oder verbale Gewalt der Kinder entgegengebracht wird, tun?

In den Anfängen ist es wichtig, sich klar gegen jede Form von Gewalt zu positionieren und sie in keinem Fall beispielsweise mit der Erkrankung eines Kindes oder mit dem jungen Alter zu entschuldigen. Besteht die Gewalt schon längere Zeit, ist es nicht sinnvoll, selbst zu Strafen und Androhungen von Gewalt zu greifen. Dies würde nur zu einer Gewalteskalation führen. Ebenso wenig sinnvoll ist es, dem Kind mit viel Erklärungen, Appellen an seine Einsicht und Bitten um ein angemessenes Verhalten zu begegnen.

Die Eltern sollten in der akuten Situation Streit mit dem Kind vermeiden und später darauf zu sprechen kommen. Am Abend oder am nächsten Tag sollten sie dem Kind gemeinsam sagen, dass sie als seine Eltern sein Verhalten nicht in Ordnung finden. Darüber hinaus ist es wichtig, dass die Eltern Nachbarn, Freunden oder Bekannten darüber berichten, was in ihrer Familie geschieht, und diese Personen um Unterstützung bitten. All diese Schritte sind aber nicht leicht. Die meisten Eltern brauchen dabei die Unterstützung durch eine Beraterin oder eine Therapeutin.

Du brauchst Hilfe?

Neben einer Therapeutin oder einer Beraterin, raten Experten dazu, das Kind anzuzeigen. "So paradox es beim ersten Hören auch klingt, eine Anzeige bei der Polizei kann von hilfreicher Wirkung sein. Wenn Eltern die Mauer des Schweigens durchbrochen haben, kommen sie nicht darum herum, den Sohn oder die Tochter davon zu unterrichten. Das fällt schwer", erklärt die Pädagogin Gertrud Ennulat auf der Webite Familienhandbuch.de. "Aber nur so kann der bisher zwanghaft ablaufende Teufelskreis durchbrochen werden. Es bringt einer Mutter oder einem Vater nichts, wenn sie ihr schlagendes Kind entlasten wollen und alle Schuld auf sich nehmen."

Text und Interview: Bonnie Stenken