Psychologie

Limerenz: Bist du noch verliebt oder schon obsessiv?

Eine neue Liebe ist nicht immer wie ein neues Leben: Limerenz kann Verliebtheit in Obsession wandeln. Das rät die Psychotherapeutin.

Frau starrt in ihr Handy
Foto: Enes Evren/iStock
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Wenn sich dein ganzes Leben plötzlich nur noch um diese eine Person dreht, in die du verliebt bist, und dir nichts anderes mehr wichtig ist, leidest du vielleicht unter Limerenz. Wir haben mit einer Psychotherapeutin über obsessive Verliebtheit gesprochen: Was sind die Symptome einer Limerenz, wen trifft sie am ehesten und wie kann man Limerenz überwinden?  

Wenn Liebe zur Obsession wird: Was ist Limerenz?

"Der Begriff Limerenz wurde in den 1970er Jahren von der amerikanischen Psychologin Dorothy Tennov eingeführt, nachdem sie Interviews mit verliebten Personen geführt und dabei eine bestimmte Form der Verliebtheit festgestellt hatte, die sich von anderen Formen unterschied", erzählt Psychotherapeutin Dr. Rosalie Weigand im Interview mit Wunderweib.

Diese neue Form der Verliebtheit nannte Tennov "Limerence", zu Deutsch "Limerenz". Doch was ist Limerenz? "Laut Definition ist Limerenz ein unwillkürliches, überwältigendes Verlangen nach Aufmerksamkeit und positiver Wertschätzung durch eine andere Person, von welcher unsicher ist, ob sie dieses Verlangen erwidert", führt Weigand aus. Der Mensch, in den eine limerente Person verliebt ist, wird limerentes Objekt genannt.

Nach Interviews mit über 300 verliebten Paaren veröffentlichte Tennov 1979 das Buch "Love and Limerence – the Experience of Being in Love" mit ihren Erkenntnissen, das 1981 in Deutschland unter dem Titel "Limerenz, über Liebe und Verliebtsein" (Kösel Verlag) auf den Markt kam.

Limerenz Symptome: Gedankenkarusselle und Stimmungsabhängigkeit

Welche Verhaltensweisen und Symptome sind Anzeichen einer Limerenz? Dr. Rosalie Weigand unterteilt drei Hauptfelder:

  1. Intensive, intrusive Gedanken an das limerente Objekt. Nach Tennov können diese Gedanken zwischen 85 und 100 Prozent der wachen Stunden in Anspruch nehmen. In Gedanken wird das limerente Objekt idealisiert. Zudem entstehen Sorgen, wie man sich selbst gegenüber der limerenten Person präsentiert.

  2. Ritualisierte Verhaltensweisen, wie das intensive Betrachten von Fotos der Person, wiederholtes Lesen von Nachrichten, usw. Die Gedanken und Verhaltensweisen können dazu führen, dass andere Dinge (z.B. Arbeit, soziale Kontakte) vernachlässigt werden.

  3. Die Stimmung der Betroffenen ist beinahe komplett abhängig vom wahrgenommenen Verhalten des limerenten Objekts. Wenn es Zeichen für eine Erwiderung der Gefühle gibt, geht das mit extremer Freude einher. Wenn die Zeichen gegen eine Erwiderung der Gefühle sprechen, führt das zu tiefer Verzweiflung.

Limerenz: Psychologie der Ungewissheit

Einen Aspekt der Limerenz hebt Dr. Rosalie Weigand im Interview besonders hervor: die Rolle der Ungewissheit.

"Zeigt das limerente Objekt Anzeichen von Interesse, reagiert die limerente Person mit Euphorie. Zeigt das limerente Objekt Anzeichen von Desinteresse, reagiert die limerente Person mit Verzweiflung. Aber paradoxerweise: Sobald eine zuverlässige und konstante Erwiderung der Gefühle durch das limerente Objekt erfolgt, verschwindet die Limerenz. Somit wird sie also aufrechterhalten durch eine Balance zwischen Hoffnung und Ungewissheit."

Macht Limerenz krank?

"Limerenz ist grundsätzlich keine Krankheit oder psychische Störung", so Dr. Weigand, "jedoch gibt es sowohl Parallelen zur Zwangserkrankung als auch zur Suchterkrankung."

Ähnlich einer Zwangsstörung können sich limerente Personen den intrusiven Gedanken nicht erwehren, das Gedankenkarussell ist für sie nicht zu stoppen. Auch Rituale bezüglich des limerenten Objektes (wiederholtes Betrachten von Fotos, Lesen von Nachrichten, etc.) können zwanghaft werden. "Verursachen diese Symptome starkes Leid oder führen zu Beeinträchtigung im täglichen Leben, könnte die Diagnose einer Zwangserkrankung gestellt werden", erklärt die Expertin.

Charakteristika einer Suchterkrankung sind erfüllt, wenn zu dem starken Verlangen nach dem limerenten Objekt diese Symptome kommen:

  • Vernachlässigung anderer Vergnügungen oder Interessen zugunsten des limerenten Objektes

  • Ein hoher Zeitaufwand wird investiert, um sich mit der Person selbst oder Informationen zu der Person zu beschäftigen

  • Fortsetzen dieses Verhaltens, obwohl der betroffenen Person klar ist, dass dieses Verhalten schädlich ist

Die Psychologin warnt davor, Limerenz auf die leichte Schulter zu nehmen. "Eine Folge von langem Verweilen in einem limerenten Zustand kann eine Depression oder ein Burnout sein."

Welche Ursachen hat Limerenz?

Vorweg: Obsessive Verliebtheit ist kein typisch männliches oder typisch weibliches Phänomen. "Die Forschung zu Limerenz ist sehr begrenzt. Es gibt keine Hinweise darauf, dass ein Geschlecht mehr betroffen ist als das andere", klärt Dr. Weigand auf.

Gibt es aber Persönlichkeiten, die mehr zu obsessiver Verliebtheit neigen als andere? Bei der Beantwortung dieser Frage liegt ein großer Fokus auf der Art, wie Menschen Bindungen eingehen und welche Bindungserfahrungen sie im Laufen ihres Lebens gemacht haben. "Grundsätzlich kann man sagen, dass Personen, die einen sicheren Bindungsstil haben, eher nicht zu Limerenz neigen", erklärt Dr. Weigand.

Im Umkehrschluss gehört Bindungsunsicherheit zu den Limerenz-Ursachen. "Negative Bindungserfahrungen in der Vergangenheit dazu bei, dass man eher limerent wird, da durch die Ungewissheit eine paradoxe Sicherheit entsteht: Die limerente Person muss sich ja nicht wirklich binden, muss sich mit Themen wie Verbindlichkeit, Aushandeln von Kompromissen oder generell Konflikten gar nicht auseinandersetzen, sondern kann in einer Fantasie verbleiben", verdeutlicht die Psychologin. 

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Als weitere mögliche Ursache für Limerenz gilt eine übersteigerte Idealisierung von Liebe und Verliebtheit. "Die eigenen Annahmen darüber, wie Liebe oder Verliebtheit sein muss, tragen viel dazu bei, ob man limerent wird oder nicht", bestätigt Dr. Weigand. "Wenn man Vorstellungen von der idealen, romantischen Liebe hat, dann ist man anfälliger für Limerenz."

Obsessiv verliebt: Wie lange dauert Limerenz?

Die Dauer einer Limerenz ist hochindividuell. Manche Menschen erleben diesen Zustand nur einmal, andere müssen mit wiederkehrenden limerenten Phasen umgehen. Dorothy Tennov ging davon aus, dass eine Limerenz-Phase zwischen 18 Monaten und drei Jahren dauern kann.

"Limerenz endet, wenn man definitiv und glasklar abgewiesen wird und keine Projektionsfläche mehr da ist", nennt Dr. Weigand einen möglichen Endpunkt der Limerenz. "Ebenso endet Limerenz mit dem Eingehen einer festen Beziehung. In manchen Fällen kann sich Limerenz nämlich in Liebe wandeln. Oder aber Limerenz endet, wenn die andere Person die Gefühle erwidert und man dann plötzlich selbst feststellt, dass man gar nicht mehr limerent bzw. sogar interessiert ist, sobald die Ungewissheit weg ist."

Limerenz überwinden: Hilft eine Therapie?

"Da es sich bei Limerenz nicht um eine psychische Erkrankung handelt, gibt es weder klare diagnostische Kriterien, um diesen Zustand zu identifizieren, noch gibt es Behandlungsmanuale", betont Dr. Rosalie Weigand vorab. 

Doch auch ohne konkrete Limerenz-Diagnose kann eine Therapie hilfreich sein. "Es können therapeutische Strategien zur Behandlung der Zwangs- oder Suchterkrankung helfen", betont die Psychotherapeutin.

Zwei mögliche Strategien sind:

  • Reiz- und Reaktionskontrolle: Es wird empfohlen, analog zur Therapie bei Suchterkrankungen, den Kontakt zum limerenten Objekt komplett zu vermeiden. Ist das nicht möglich, so wird eine Technik namens Exposition mit Reaktionsprävention angewandt. Dabei geht es darum, sich erst dem gefürchteten Reiz auszusetzen und dann das Ritual zu unterlassen, was typischerweise durchgeführt wird.

  • Verhaltensaufbau: Das Problem mit Limerenz ist, dass durch die exzessive Beschäftigung mit dem limerenten Objekt andere Aktivitäten und Personen vernachlässigt werden. Es kann hilfreich sein, Aktivitäten aufzubauen, die nichts mit dem limerenten Objekt zu tun haben und im besten Fall anderweitige soziale Kontakte ermöglichen.

Limerenz ernst nehmen

Freunde und Familie von limerenten Menschen stehen vor der Herausforderung, deren Gefühle und Verhaltensweisen nicht einfach abzustempeln. "Der Leidensdruck der Betroffenen ist oft sehr hoch, denn teilweise werden Jahre im Zustand der Limerenz verbracht. Stress, Traurigkeit und Schamgefühle sind groß, das Verständnis des Umfelds hingegen eher gering", unterstreicht die Expertin. "Wenn Menschen jahrelang in einem Zustand der Limerenz verbringen und wiederholt limerente Episoden haben, können daraus Depressionen oder Erschöpfungszustände entstehen."

Wenn du dich sich selbst immer wieder dabei ertappst, einen bestimmten Menschen zu idealisieren, gedanklich regelrecht zu verfolgen und ihn zu deinem Lebensmittelpunkt zu machen, solltest du dieses Verhalten nicht einfach als übersteigerte Verliebtheit abtun. Setz dich mit möglichen Ursachen der Limerenz auseinander, erkenne die Symptome, die bei dir auftreten. Leidest du an Limerenz, hol dir Hilfe und stell sicher, dass du selbst im Mittelpunkt deines Lebens stehst und niemand anderes. 

Limerenz-Expertin Dr. Rosalie Weigand  - Foto: Dr. Rosalie Weigand

Unsere Expertin

Dr. Rosalie Weigand arbeitet als Psychologische Psychotherapeutin für Verhaltenstherapie und Paartherapeutin sowie Dozentin für Psychotherapie in Hamburg. Ihre Überzeugung: "Gesunde Beziehungen lassen sich gestalten". Über ihren Instagram-Kanal und den Blog auf ihrer Homepage möchte sie Menschen dabei unterstützen, eine bessere Beziehung zu sich selbst und anderen zu erlernen. Denn der Weg zu psychischer Gesundheit führt ihrer Meinung nach weder am Ich noch am Du vorbei.