Mein Kind beißt – was tun?
Ein Kind beißt sich selbst, andere Kinder oder Mutter und Vater? Woran es liegen kann, wenn ein Kind beißt und was wirklich hilft, das Beißen abzugewöhnen – Familientherapeutin Marthe Kniep erklärt.
Was hilft, wenn ein Kind beißt
Beißen ist ein typisches wenn auch leidiges Phänomen im Kleinkindalter. Und so ein Kinderbiss kann schon richtig Schaden anrichten. Blaue Flecken bis hin zu Bisswunden und blanke Nerven bei allen Beteiligten sind das Ergebnis. Als Elternteil eines „Beißkindes“ darf man dann noch die Schmach böser Blicke anderer Eltern über sich ergehen lassen, die ihre Kinder vor dem „Beißer“ schützen wollen. Als hätte man nicht schon genug Probleme damit, dem Kind dieses ungeliebte Verhalten abzugewöhnen. Eine wirklich verzwickte Lage.
Oft braucht es das Zusammenwirken mehrerer Personen, damit sich an dieser Situation etwas ändern kann. Ein Schlüssel liegt darin, zu verstehen, was das Kind in diesen Momenten braucht. Was Eltern tun können, um ihr Kind darin zu unterstützen, nicht mehr beißen zu müssen, erklärt Familientherapeutin Marthe Kniep aus Jesteburg.
Die Bedeutung der kindlichen Entwicklungsaufgaben
Kein Kind beißt gern oder weil es von Natur aus irgendwie böse ist. Es stecken immer triftige Gründe hinter so einem Verhalten, die leider nicht in jedem Fall auf Anhieb klar erkennbar sind. Um zu verstehen, warum einige Kinder anfangen zu beißen, hilft ein Blick auf die Entwicklungsaufgaben im Kleinkind- bzw. Kindergartenalter.
Allein die körperliche Entwicklung ist eine unglaubliche Aufgabe. Gleichzeitig fangen Kinder in dieser Zeit an, ausführlich die Welt außerhalb der Familie zu erkunden. Nicht allen fällt es leicht, diesen Schritt nach draußen gelassen zu gehen. Dann kommen Krippe oder Kindergarten dazu. Hier müssen Kinder lernen, wie sie sich in einer Gruppe zurechtfinden, die sie sich nicht selber ausgesucht haben. In all diesen Situationen muss ausprobiert und erfahren werden, was man tun muss, damit die eigenen Bedürfnisse gesehen und erfüllt werden.
Das allein ist schon ein ganz schön anstrengendes Programm für einen so kleinen Geist. Wenn dann noch Neuerungen und Belastungen hinzukommen, kann das ein Kleinkind so sehr stressen, dass es nicht mehr friedlich bleiben kann. Irgendwie verständlich. Und in all diesen Situationen muss das Kind lernen, seinen Stress zu regulieren oder auch mal Frust für eine Weile auszuhalten. Das macht natürlich überhaupt keinen Spaß. Und manche Kinder zeigen das eben recht deutlich, indem sie laut werden, zappelig oder aggressiv gegen sich oder andere.
Das Kind braucht jetzt Eltern, die sich ihm liebevoll zuwenden und es bestmöglich unterstützen, auch wenn dies durch das Beißen und den damit verbundenen Ärger eine echte Herausforderung ist.
Warum Kinder oft im Kindergartenalter beißen
In Krabbelgruppe oder Kindergarten prasseln viele Welten aufeinander. Und sich ohne den Schutz von Mama und Papa in einer neuen und nicht selbstgewählten Gruppe einzufügen ist für die wenigsten Kinder ein Selbstgänger. Für die meisten ist das eine wirklich große Aufgabe, die mit viel Frustration verbunden ist. Und diese auszuhalten, gelingt jedem Kind anders. Manch ein Kind macht dabei leider die Erfahrung, dass es sich hier und da tatsächlich „durchbeißen“ muss. Kein Wunder, wenn es das dann tatsächlich tut, wenn Worte und Handlungsalternativen noch nicht eingeübt sind.
Denn nicht alle Kinder bekommen rechtzeitig die nötige Unterstützung darin, Frust, Wut und Ärger konstruktiv zu verarbeiten. Und so suchen die Kleinen in ihrer Überforderung andere Auswege. Hauen und beißen sind nur zwei von vielen Möglichkeiten. Allerdings die, mit der heftigsten Wirkung und so auch mit dem größtmöglichen Grad an Aufmerksamkeit. Das ist schnell gelernt.
Und so häuft sich ruck zuck ein unerwünschtes Verhalten, obwohl im Ursprung keine böse Absicht dahintersteckt, sondern oft einfach nur Hilflosigkeit oder die Trauer und Wut über eine erlebte Kränkung des Kindes. Diese Sicht ist wichtig, um den liebevollen und verständnisvollen Blick auf das Kind nicht zu verlieren, den es jetzt besonders dringend braucht. Sonst ist die Gefahr groß, dass sich das Kind von den Eltern abgelehnt fühlt. Und dann steht es allein da. Das überfordert jedes Kind.
Jetzt als Eltern nicht den Kopf in den Sand zu stecken ist wichtig. Denn sie können einiges tun, was sich bereits positiv auf das Kind auswirken kann, ohne dass sie das Beißen zum ständigen Thema machen müssen. Wichtig ist schließlich auch, was in der Familie noch passiert.
Wenn das Kind beißt - Was Eltern tun können
Es gibt einige Dinge, die allen Kindern entgegenkommen. Aber besonders die Kinder, die durch ihr auffälliges Verhalten zeigen, dass es ihnen nicht gut geht. Hier ein kleiner Überblick.
Auf Regelmäßigkeit achten
Die Welt ist für Kinder aufregend und anstrengend. Deshalb ist es für viele Kinder hilfreich, einen festen Tagesablauf zu haben, auf den sie sich gut einstellen können. Das kann für Erwachsene etwas eintönig sein. Den meisten Kindern kommt es jedoch entgegen, zu wissen, was als nächstes dran ist. Viele lieben es sogar, wenn Sie ankündigen können, was erfahrungsgemäß gleich dran ist: Gleich lesen wir/gehen wir raus, gehen wir zum Briefkasten…. Das gibt Handlungssicherheit und wirkt Überforderung entgegen.
Einbeziehen in Alltagshandlungen
Kinder möchten helfen. Es tut ihnen gut, ihre Selbstwirksamkeit im Alltag immer wieder neu zu erleben und positive Rückmeldungen darauf zu kriegen. Den Kindern kleine, altersgerechte Aufgaben zu geben, sie in der Bewältigung zu unterstützen und dann zu loben ist Balsam für die Seele. Ein Kind, dass sich in seinen Fähigkeiten gesehen fühlt, muss weniger durch beißen auf sich aufmerksam machen.
Überlegen, woran das Kind „knabbert“
Im Volksmund sagt man bei schwierigen Situationen, die erst verdaut werden müssen: Daran hatte ich ganz schön zu knabbern. Und so geht es auch oft den Kleinen, die das leider manchmal sogar in die Tat umsetzen. Deshalb ist es wichtig als Eltern zu überlegen: Was kann mein Kind gerade nicht allein verarbeiten? Woran hat es zu knabbern? Das Kind braucht manchmal Unterstützung darin, seine Gefühle einzuordnen. Eltern können zum Beispiel sagen: „Ich sehe, dass du wütend bist. Erzählst du mir, was los ist?“ Und wenn es erzählt, helfen verständnisvolle Worte: „Ja. Das verstehe ich. Das ist auch doof. Da wäre ich auch wütend. Trotzdem darfst du dann nicht beißen.“ Wenn dann noch eine alternative und friedliche Lösung vorgeschlagen wird, bei deren Umsetzung das Kind Hilfe bekommt, ist viel gewonnen.
Bei sich schauen…
Woran haben Sie sich als Mutter oder Vater gerade festgebissen? Auch diese Frage kann Licht ins Dunkel bringen, wenn Eltern nach einer Lösung suchen. Schließlich nehmen Kinder alle elterlichen Spannungen auf und müssen dann auf kindliche Weise versuchen, die Anspannung abzubauen. Sind Eltern gerade selber verbissen, weil sie etwas quält, beschäftigt, fertig macht? Dann ist es dringend nötig, daran etwas zu verändern, damit sich ihr Kind wieder entspannen kann und sich nicht länger „durchbeißen“ muss. In diesem Fall helfen Beratungsstellen und Therapeuten. Und wenn die Eltern ihre Konflikte klären, kann sich dann oft auch das Kind entspannen.
Auf Abwertungen verzichten
Sagen Sie dem Kind nicht, was es noch nicht kann oder „eh nicht auf die Reihe kriegt“. Auch kleine Sticheleien oder Sprüche wie „unser Dummbatz“ oder „Was hast du denn jetzt wieder angestellt?“ frustrieren ein Kind zutiefst. Erwähnen Sie, worüber sie sich freuen. Vor allem die kleinen Dinge. „Super, dass du schon deine Jacke geholt hast.“ „Toll, dass du schon zwei passende Puzzleteile gefunden hast.“ Es sind die kleinen Dinge, die diese positive Form der Aufmerksamkeit brauchen. Auch wenn das Kind daneben jede Menge Unsinn verzapft.
Ruhemomente und Rituale einführen
Kinder berichten häufig in Momenten von ihrem Tag oder zeigen wie es ihnen geht, wenn Ruhe einkehrt und sie ungeteilte Aufmerksamkeit haben. Eltern können solche Momente bewusst schaffen. Bei einem Keks mit Kakao, zu dem sich Mama oder Papa (ohne Handy) dazugesellt und beide mal Löcher in die Luft gucken können, bis einer Lust hat zu erzählen. Oder beim Vorlesen. Manche Kinder lieben auch kleine Rücken- oder Fußmassagen. Sich an den Badewannenrand zu setzen kann auch so ein Moment sein, in dem Kind und Elternteil wissen: Jetzt gibt es nur uns und wir schwingen uns aufeinander ein, damit wir uns jeden Tag ein bisschen besser kennenlernen und uns in unseren Bedürfnissen verstehen lernen.
Verstehen, dass alles Neue stresst
Alles Neue ist Stress für Kids. Auch tolle neue Sachen. Deshalb kommt es vielen Kindern entgegen, wenn sich Eltern mit täglichen Highlights zurückhalten. Der Alltag ist für normale Kinder schon aufregend genug. Und die Umwelt rund ums Haus oder die Wohnung zu entdecken schon eine ganze Menge. Deshalb müssen Kinder auch nicht jeden Tag irgendwo hingebracht oder verabredet werden. Gerade die Kleinen sind froh, wenn ihr Kosmos überschaubar bleibt und sie auf diese Weise lernen, sich gut zu orientieren und nur nach und nach auf neue Menschen einstellen zu müssen.
Dem Kind Frust und Ärger zumuten
Das Kind muss lernen, mit Frust und Ärger umzugehen. Das kann es nur, wenn man dem Kind altersgerechte Frustrationen zumutet und es so lernt, diese auszuhalten. Wichtig dabei ist, dem Kind nicht das Gefühl zu geben, dass sein Bedürfnis unwichtig ist.
Findet es beispielsweise seinen Teddy nicht und Mama kann ihn gerade nicht suchen, sollte Mama nicht unbedingt alles stehen und liegen lassen und zur Hilfe eilen. Stattdessen kann sie mit ruhiger Stimme sagen: „Ich sehe, dass dich das jetzt ärgert. Und trotzdem mache ich (zum Beispiel) erst die Spülmaschine zu ende leer/die Windel von deinem Bruder neu/das Essen fertig, und dann kann ich mit dir suchen.“ Solange nichts weh tut oder der Hunger nagt, können Eltern das auch schon zu kleinen Kindern sagen, ohne ihnen damit zu viel zuzumuten.
Verständliche Regeln und Konsequenz
Es ist zugegeben nicht immer leicht, das richtige Maß an Regeln herauszufinden. Doch ohne geht es nicht. Regeln geben Orientierung. Es braucht dabei gleichzeitig das Gespür dafür, wo Regeln möglicherweise zu sehr einengen. Regeln sollten natürlich für alle gelten und nicht nur für die Kinder. Vor allem wenn es um Körperlichkeit geht, ist hier für momentan beißende Kinder das Vorleben der Eltern wichtig. „Ich gehe mit deinem Körper vorsichtig um und du mit meinem. Wir tun uns nicht absichtlich weh.“ Die Regeln sollten kindgerecht und nachvollziehbar sein. Wiederholungen mit fester aber nicht zu scharfer Stimme sind wichtig. „Hör auf. Beißen tut weh und das will ich nicht.“
Dem Beißen keinen Erfolg geben
Das Kind darf möglichst nicht die Erfahrung machen, dass ihm das Beißen einen Erfolg beschert. Kriegt es endlich, was es will, weil es sich „durchgebissen“ hat, ist das die falsche Botschaft der Erwachsenen an das Kind. Stattdessen ist es wichtig, das Kind sinngemäß erfahren zu lassen: Du hast mich gebissen. Das dulde ich nicht. So bekommst du nicht, was du willst. Aber lass uns schauen, was ich stattdessen für dich tun kann, damit es dir besser geht.
Natürlich müssen andere Kinder geschützt werden. Um das zu erreichen, muss das Kind, das gebissen hat, allerdings nicht heftig ausgeschimpft werden. Besser ist es, zusammen zu schauen, wie es zu der Situation gekommen ist und dem Kind zu zeigen, welche Möglichkeiten es gibt zu reagieren, ohne dass es beißen muss.
Konsequenzen besprechen
Das Kind muss die Erfahrung machen, dass sein Beißen Konsequenzen hat. Allerdings nicht im Sinne von Strafen und Isolation. Stattdessen ist Wiedergutmachung denkbar (heilmachen, saubermachen, trösten, Kühlkissen für das gebissene Kind holen…), der Entzug von bestimmten Privilegien, der Ausschluss aus der entsprechenden Situation (muss als Nachteil empfunden werden, wenn es wirken soll, darf aber nicht diffamierend sein) oder das direkte Anleiten der Situation, so wie sie aus erwachsener Sicht umgesetzt werden soll (kein Ausweichen zulassen, sondern Kind zum Beispiel anleiten, sich zu entschuldigen…). Die Konsequenz sollte erklärt werden und zur Situation passen, umsetzbar sein und vom Erwachsenen dauerhaft durchgehalten werden.
Fachliche Hilfe in Anspruch nehmen
Haben Sie mehr oder weniger erfolglos schon selber einiges versucht, um ihrem Kind zu helfen? Und das Verhalten des Kindes verändert sich über Wochen nicht? Dann warten Sie nicht länger und holen sich fachliche Hilfe. Sprechen Sie Ihren Kinderarzt an, welche Therapeuten er oder sie empfehlen kann. Wichtig ist, dass nicht nur das Kind behandelt wird, sondern auch die Familie einbezogen wird. Für Kindergartenkinder ist außerdem hilfreich, wenn sich die Eltern gut mit den Erziehern darüber abstimmen, wie auf das Beißen reagiert wird und welche Hilfen die Familie in Anspruch nimmt. So können alle an einem Strang ziehen.
Ein kleiner Trost ist vielleicht, dass das Beißen oft nur eine Phase ist. Diese kann allerdings erheblich verkürzt werden, wenn sich die Eltern gleich Hilfe holen. Es ist nicht zu unterschätzen, wie entlastend es sich anfühlt, als Eltern sagen zu können: „Wir sind zusammen mit unserem Kind bei einem Fachmann/einer Fachfrau und suchen nach einer Lösung.“ Dann stehen Eltern hinter ihrem Kind und sorgen gut für die seelische Gesundheit in ihrer Familie. Dies vorzuleben ist eine wichtige Ressource, die hier schon früh dem Kind mit auf seinen Weg gegeben wird.
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