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Jens Kelting: "Es vergeht kein Tag ohne abwertende Blicke und Sprüche!"

Wie sehr queere Menschen noch heute angefeindet werden ist nur schwer zu glauben. Eine Reportage für mehr Mut und Verständnis.

Jens Kelting: Es vergeht kein Tag ohne abwertende Blicke und Sprüche!
Foto: Gunnar Geller, Quirin Leppert
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Werden queere Menschen immer noch angefeindet? Chefreporterin Sabine Klink (57) der Zeitschrift Tina kann es schwer glauben und begleitet Jens Kelting (38) ein paar Stunden.

1210 Hassverbrechen - Anfeindungen gegen queere Menschen vermehren sich

Nein, wir haben uns nicht abgesprochen – tragen beide zufällig Königsblau, Jens gewagt im schulterfreien Jumpsuit, ich bequem in Samthose. Los geht’s, drei Uhr nachmittags, vom Verlag Bauermedia Richtung Hauptbahnhof.

Wir sind quasi auf geheimer Mission. Anlass sind die vermehrten Anfeindungen gegen queere Menschen. 2021 registrierte das Bundeskriminalamt 1210 Fälle von Hassverbrechen aufgrund des Geschlechts, der Geschlechtsidentität oder der sexuellen Orientierung.

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Jens Kelting: „Da reicht schon der eine Kilometer von hier zum Hauptbahnhof“

Wie kann das sein? Waren wir nicht schon weiter? In vielen deutschen Städten leuchten Rathäuser in Regenbogenfarben, wenn jährlich der Christopher Street Day gefeiert wird. Politiker outen sich, Stars wie Hape Kerkeling, Guido Maria Kretschmer, Ross Antony leben schon lange ihre Homosexualität offen aus.

Deutsche sind tolerant, die Mehrheit ist für das Recht auf gleichgeschlechtliche Ehe, 95 Prozent befürworten das Diskriminierungsverbot. Was also passiert im Alltag, wovon wir Nichtbetroffenen nichts mitbekommen?

Als ich unseren immer fröhlich gelaunten Kantinen-Chef Jens frage, ob auch er die aktuelle Homophobie zu spüren bekomme, sagt er: „Klar! Es vergeht kein Tag ohne abwertende Blicke, Sprüche. Da reicht schon der eine Kilometer von hier zum Hauptbahnhof.“

Der Weg, den auch ich täglich gehe – ein Tatort? So verabreden wir uns zu dieser Exkursion, ich will an Jens’ Seite sein, sehen, hören, was er täglich erfährt. Wir nehmen die S-Bahn raus über die Elbe nach Harburg.

Wenn Jens Zug fährt...

In der sehr vollen Bahn geht unser Fotograf Gunnar voran, ich folge Jens mit Abstand, damit man nicht merkt, dass wir zusammengehören. So sehe ich die Reaktion zweier Männer, etwa Mitte 30. Der eine, sehr korpulente, grinst, verdreht die Augen und sagt: „Scheiße, mir wird schlecht!“ Jens hört das nicht, läuft weiter, ich drehe um und setze mich zu den Männern.

Nun flüstern sie. „Wir können ihn rausschmeißen, ich will ihn schlagen“, sagt derselbe, ballt die Faust und lacht. „Nee, lass mal, Scheiß-Security!“, sagt der andere. Ich bin bedient, stehe auf, gehe in Richtung Jens, der im Türraum steht.

Da springt eine Frau plötzlich auf und ruft zwei Männern, von denen einer so tut, als müsse er sich übergeben, empört entgegen: „Könnt ihr eure Gedanken bitte leise äußern! Ich habe euch verstanden und halte es nicht aus. Wir sind hier in Deutschland. Hier gibt es Gesetze und Werte!“ Ich frage Jens, was los ist. Er zuckt mit den Schultern, alle im Abteil schauen auf die zwei Männer, die verstummen. Wir steigen aus, ich laufe der Frau hinterher.

Draußen am Harburger Rathausplatz erzählt uns die Sozialarbeiterin Anna (42), die vor 14 Jahren aus der Ukraine nach Deutschland kam, was die zwei Russen gesagt haben. „Überall Schwuchteln, so eklig, sie nehmen Penisse in den Mund. Deutschland ist am Ende – alles nur Schwuchteln.“

Für Sozialarbeiterin Anna sind deutsche Werte wichtig. Die beiden Männer sind Idioten, da sind wir Frauen uns einig. Doch wir sehen Jens an, dass er diese Sprüche nicht so einfach wegsteckt.

Jens Kelting: „Manchmal denke ich, wir bewegen uns eher zurück als nach vorn“

„Es macht mich so wütend“, sagt Anna. „Solche ungepflegten Typen regen sich über so einen schönen, gepflegten Menschen wie dich auf. Ich kann bei so was nicht schweigen, ich kämpfe ständig gegen menschliche Dummheit. Manchmal ist es schwer, Menschen mit Worten zum Guten zu bewegen. Aber es ist wichtig, deutsche Werte sind mir wichtig!“ Was für ein Kampfgeist!

„Ja, die Werte sind gut“, sagt Jens leise, „aber manchmal habe ich das Gefühl, wir bewegen uns eher zurück als nach vorn. Ob ich nun ein Kleid trage oder Jeans – warum verletze ich jemanden damit?“ Gute Frage, auf die wir keine Antwort finden. Anna verabschiedet uns mit Umarmung, wir gehen durch die Fußgängerzone und ernten Blicke.

Frauen lächeln amüsiert oder zwinkern anerkennend, Kinder lächeln zurück, Männer schauen irritiert weg oder schütteln den Kopf. Einer geht mit zusammengekniffenen Augen dicht an uns vorbei und sagt etwas.

Ich denke, mich verhört zu haben, frage Jens, und er sagt: „Nein, du hast richtig gehört.“ Weg hier, sage ich und biete Jens an, ein Taxi zurück in die City zu nehmen. Ich fühle mich schlecht, Jens in diese Situation gebracht zu haben und ihn nicht schützen zu können.

„Nein, das ist nicht nötig. Ich bin es ja gewohnt“, sagt er. „Das Leben ist eben nicht wie im Fernsehen, einem Ross Antony würde hier auch das Strahlen vergehen.“

Jens Kelting über die aktuelle Homophobie in unserer Gesellschaft

Wir gehen zur S-Bahn, ich geknickt, Jens aufrecht. „Ich weiß, dass mein Outfit gewagt ist. Aber ich trage es nicht, um zu provozieren, sondern weil ich mich darin schick finde“, sagt er und erzählt, wie er mit 27 nachts in Hamburg, allein auf dem Nachhauseweg, von drei Männern zusammengeschlagen wurde.

„Sie haben mich auch seelisch verprügelt, sodass ich mich ein Jahr lang nicht traute, ein Kleid zu tragen.“ Eines Morgens sei er dann aufgewacht und wusste: „Ich lasse mir von niemandem sagen, wer ich bin!“

Heute engagiert sich Jens in der Aidshilfe, beim Hamburger CSD, gibt Workshops für mehr Selbstbewusstsein für queere Menschen, er wird als Chef respektiert und sehr gemocht. Seine Mutter (69) und sein Vater (70) sind stolz auf ihn.

Aufgewachsen ist Jens in einem 400-Seelen-Dorf in Nordfriesland. „Als ich mich mit 19 outete, mein Schwulsein über meine Kleidung sichtbar machte, haben sich die Leute bald daran gewöhnt und sich für mich gefreut. Ich bin der bunte Vogel.“ Jens hat Türen geöffnet. Ist nun jemand im Dorf schwul, heißt es: „So wie unser Jens? Dann ist es ja in Ordnung!“

Jens Kelting: „Immer wenn ich das Haus verlasse, werde ich bewertet. Das habe ich akzeptiert“

Auf der Fahrt zurück passiert nichts. Für mich war das heute neu und erschreckend, für Jens nicht. „Immer wenn ich das Haus verlasse, werde ich bewertet. Das habe ich akzeptiert“, sagt er, als wolle er mich trösten.

„Heute ist auch Positives passiert. Anna! Und allein dass ihr diese Geschichte in tina bringt, ist toll! Meine Mutter freut sich schon darauf!“

Sein Lächeln steckt mich an. Und ja, Annas Stimme war lauter als das feindliche Flüstern. In meinem Freundes- und Kollegenkreis ist niemand homophob. Ich denke, das Positive, Verbindende überwiegt.

Danke, Jens, dass du mich mitgenommen hast! Und liebe Mama, lieber Papa von Jens, wenn Sie das hier lesen: Sie haben einen wundervollen Sohn!

Die Ursache für Homophobie

Dr. Christian Dogs, Facharzt für Psychiatrie erklärt, Homosexualität war bis 1994 nach Paragraf 175 strafbar. Also sind alle Generationen damit aufgewachsen, dass Homosexualität verboten ist.

Außerdem haben wir in der Regel Mann und Frau als Eltern, und es wird immer noch als ungewöhnlich empfunden, wenn Mann und Mann und Frau und Frau zusammenleben.

So wird von Geburt an internalisiert, dass Eltern gemischtgeschlechtlich sind. Das wird als normal empfunden. Und alles, was vom Normalen abweicht, wird in unserer Gesellschaft als bedrohlich gesehen und ist damit phobisch besetzt.

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Artikelbild und Social Media: Gunnar Geller, Quirin Leppert