Expertin im Interview

Slow Sex: Warum langsamer Sex mehr als ein Trend ist

Beim Slow Sex nehmt ihr euch stundenlang Zeit füreinander. Doch langsamer Sex ist mehr, als vor der Zweisamkeit das Licht und das Handy auszuschalten und eine Kerze anzuzünden. Slow-Sex-Expertin Yella Cremer verrät euch alles über die sanfte Liebestechnik!

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Wörtlich übersetzt meint Slow Sex langsamen Sex und Langsamkeit ist ein wichtiges Werkzeug, doch nicht das Ziel. Ihr nehmt euch ausgiebig Zeit füreinander, um intim zu sein. Aber Slow Sex ist kein klassischer Geschlechtsverkehr, bei dem ihr auf einen Orgasmus zusteuert. Das Wesentliche ist mehr Aufmerksamkeit für den Moment zu haben und alle Sinne zu genießen.

Slow-Sex-Expertin Yella Cremer, die 2024 ihr neues Buch "Liebe würde Slow Sex machen" veröffentlicht hat, erzählt uns im Interview, was hinter der intimen Liebestechnik steckt. 

Was ist Slow Sex?

Slow Sex ist eine Liebestechnik, bei der bewusst ein abschließender Höhepunkt als Ziel weggelassen wird, damit sich Genuss im Moment konzentriert - statt Leistungsdruck kann so tatsächliche Intimität zwischen Paaren entstehen. Ihr habt also Sex miteinander, verzichtet aber darauf, die typischen Knöpfe zu drücken, um einen Orgasmus zu erreichen.

"Slow Sex ist kein unsexuelles Kuscheln. Es geht darum, ganz im Moment zu sein statt auf ein Ziel hinzuarbeiten. Es wird kein Sexprogramm abgespult", erzählt Slow-Sex-Expertin Yella Cremer im Interview mit Wunderweib. 

Ihr legt euch nackt ins Bett, eng aneinandergeschmiegt. Wenn ihr wollt, kann Penetration stattfinden. Anstatt dann aber wie gewöhnt Sex zu haben, tut ihr erstmal nichts weiter. "Der Genuss steht im Mittelpunkt – und wenn du einen nackten Menschen neben dir hast, ist das Genuss pur. Mehr braucht es eigentlich nicht. Das ist der Anfang und von da aus könnt ihr die sexuellen Impulse so nehmen, wie sie kommen."

Langsam Sex haben für mehr Genuss

Sexuelle Impulse so nehmen, wie sie kommen… Klingt schön. Aber was ist damit gemeint?

Es heißt vor allem, dass jede*r für sich in sich hinein hört, während ihr nackt nebeneinander liegt. Der Kopf, der Knöpfe drücken und das Ziel "Orgasmus" verfolgen will, wird ausgeschaltet. Eure Körper geben vor, was passiert und in welcher Geschwindigkeit es passiert. 

"Man denkt doch immer, man müsse dieses oder jenes tun im Bett, um Erregung zu erzeugen. Beim Slow Sex lernt ihr, dass Magie auch dann entsteht, wenn ihr die ganze erlernte Reibung weglasst", betont Yella Cremer. 

Slow Sex ist also nicht einfach nur stundenlanges Kuscheln. Langsam Sex zu haben, ohne auf einen Höhepunkt hinzuarbeiten, ist echter Sex – im besten Sinne. Manchmal entsteht dabei ein Orgasmus aus tiefer Entspannung, manchmal nicht – und auch dann ist es tief beglückend. Wichtig ist, die Erwartung auf einen Orgasmus wegzulassen.

Sex ohne Orgasmus gibt's nicht nur im Slow Sex

Slow Sex ist nicht das Gleiche wie Karezza. Diese Form des orgasmusfreien Liebesspiels hat keinen tantrischen Hintergrund. Der US-Amerikaner John Humphrey Noyes (1811-1886) erfand Karezza (ital.: Liebkosung) aus rein praktischen Gründen: Er war der Überzeugung, Sex ohne Orgasmus könne ungewollte Schwangerschaften verhindern und damit das Risiko minimieren, dass eine Frau bei der Geburt ums Leben kommt, wie es damals häufig der Fall war.

…und wozu das Ganze?

Was ist das Problem, das so viele von uns mit Sex haben? Richtig, der Leistungsgedanke dahinter. Frauen müssen immer erregt bzw. erregbar sein, Männer müssen standfeste Erektionen liefern (am besten mehrere hintereinander!) und alle müssen zur gleichen Zeit Lust auf Sex haben und dann noch genau wissen, welche Knöpfe sie bei ihrem Gegenüber drücken müssen, um für multiple Orgasmen zu sorgen. Aber bloß keinen Druck empfinden, sondern nichts als Lust. Ja ne, ist klar…  

"Wir brauchen einen anderen Zugang zu Sex. Solange Sex als Leistung gesehen wird und es gilt ein Ziel zu erreichen, ist es immer auch eine Hürde, sich dazu aufzuraffen. Slow Sex dreht das um – du musst keine Leistung erbringen, sondern nur im Moment sein. Der Genuss kommt wie von allein", untermauert Yella Cremer.  

Sex lernen: Wie funktioniert weiche Penetration?

Beim Stichwort Leistungsdruck denken viele Männer an Erektionsstörungen. Zwischen 1 und 15 %  der Männer bis 49 Jahren leiden zu einem gegebenen Zeitpunkt unter Erektionsproblemen. Das heißt, sie bekommen keine ausreichend harte Erektion für Geschlechtsverkehr oder können diese nicht halten. 

Eine Spielart des Slow Sex ist die weiche Penetration. Während ihr im Bett liegt, kann der Penis ohne (vollständige) Erektion in die Vagina eingeführt werden. Der Fokus liegt auch hier auf dem Genuss. Rein-raus bitte weglassen. "Penetration darf stattfinden", betont Yella, "aber ohne den Impuls, durch viel Bewegung intensive Reize hervorzurufen. Vielmehr lässt man den Körper in Ruhe und das, was entstehen will, entwickelt sich von alleine."   

Der Effekt der weichen Penetration liegt auf der Hand: Mann kann eine Erektion haben, muss es aber nicht. "Sowohl Erregung als auch Erektionen folgen Wellenbewegungen", beschreibt Yella Cremer. "Es muss nicht immer steil bergauf gehen bis zum Höhepunkt. Die Erektion darf kommen und gehen, darf hart sein oder weich, darf gar nicht kommen. Alles ist okay."

Die besten Stellungen für Slow Sex

Wie gelingt weiche Penetration? "Das ist der einzige Punkt, an dem Slow Sex eine Technik ist", sagt Yella Cremer und führt aus: "Die weiche Penetration funktioniert am besten in der klassischen Scherenposition. Dabei gerne Gleitgeld verwenden. Der Rücken der Frau sollte ca. 45 Grad unterstützt sein, sodass sie so leicht aufrecht und die Vagina weit geöffnet ist. Sie greift den Penis mit Zeige- und Mittelfinger – im Prinzip wie ein Victory-Zeichen – direkt hinter der Eichel, drückt ein wenig zu, damit sich dort das Blut staut und zieht den ansonsten schlaffen Penis in sich. Mit der anderen Hand kann sie dann nachschieben. Auch der Mann sollte, mit einem Kissen unter seinem Becken unterstützt, ein paar Zentimeter höher liegen, sodass ein natürlicher Eindringwinkel entsteht und die Schwerkraft den Penis beim Eindringen unterstützt. Der Penis dringt nicht so tief ein wie mit einer klassischen Erektion, aber ein paar Zentimeter gehen eigentlich immer."

Wie alles beim Slow Sex ist die weiche Penetration ein Mittel zum Genuss ohne Leistungsgedanken. "Für viele Männer ist Slow Sex wahnsinnig entlastend, denn es ist egal, ob sie eine Erektion haben, ob sie sie halten können, ob sie wieder verlieren", betont die Sexpertin.

Welche Sexstellungen eignen sich noch für Slow Sex? Im Grunde alle, die entspannt für eine längere Zeit eingenommen werden können, wie die Löffelchenstellung und die Missionarsstellung. 

Gedankenkarusselle stoppen

Arbeit, Haushalt, Sorgen, Kinder, Termine – unser Kopf gleicht meistens einer achtspurigen Autobahn. Klar, dass wir diese Anspannung auch in den Slow Sex mitnehmen. Wie gelingt es, abzuschalten und den Impulsen des Körpers zu folgen? "Wenn der Kopf nicht ausgeht, gibt es richtige Werkzeuge beim Slow Sex. Ein zentrales davon ist, sich bewusst auf seine Sinne zu konzentrieren", erzählt Yella und ergänzt: "Viele Menschen sind regelrecht erstaunt darüber, wie viel in dieser Stille passiert." 

Wenn also Gedanken an den Alltag aufkommen, holt ihr euch mit diesen gezielten Fragen zurück ins Hier und Jetzt: 

  • Was rieche, höre und schmecke ich?

  • Wie fühlt sich der andere Körper an meiner Haut an?

  • Wie fühlt sich die Bettdecke auf meiner Haut an? 

  • An welchen Stellen meines Körpers ist es besonders warm? 

  • Wie fließt mein Atem im Vergleich zu dem meines Gegenübers?

"Unsere Körper können extrem viel spüren. Aber wenn wie beim klassischen Sex immer so viel gleichzeitig passiert, dann schalten die Sinne ein paar Gänge zurück. Beim Slow Sex schärft ihr die Sinne", verdeutlicht Yella im Interview mit uns.  

Slow Sex: Zeit finden für die Liebe

Der Begriff "Slow Sex" wurde in den frühen 2000ern von der damaligen Slow-Food-Bewegung inspiriert. Geprägt hat ihn die Körpertherapeutin und Tantra-Lehrerin Diana Richardson in ihrem Buch "Slow Sex: Zeit finden für die Liebe". Die Südafrikanerin war Schülerin des indischen Philosophen Osho (1931-1990). Über die positive Wirkung von Slow Sex schrieb sie in ihrem Buch, es bestehe kein Zweifel daran, dass "Paare, die sich beim Sex mehr Zeit lassen und dabei jeden Augenblick bewusst genießen, mehr Sinnlichkeit, Sensitivität und Befriedigung erleben. Zudem fühlen sie sich danach in ihrer Zweisamkeit von der Liebe genährt und als Individuum gestärkt."

Beziehung vs. One Night Stand: Für wen eignet sich Slow Sex?

"Die ursprünglich aus dem Tantra stammende Idee des Slow Sex ist, dass es einen Magnetismus zwischen Frauen- und Männerkörpern gibt und dass es zu einem Energieaustausch kommt, wenn man diese beiden zusammenbringt", erzählt Yella Cremer. Diese ursprüngliche Idee hat sich natürlich weiterentwickelt. In Yellas Slow-Sex-Workshops sitzen längst nicht mehr nur Cis-hetero-Paare. Queere Paare, polyamore Paare, im Grunde jede Konstellation ist im Slow Sex richtig, wenn alle Beteiligten es wollen. 

"Die meisten meiner Klient*innen sind in Langzeitbeziehungen und kommen auf Slow Sex, wenn sie wenig oder keinen Sex mehr haben. Vor allem diese 'richtige Stimmung' ist ein Beziehungskiller bei Langzeitpaaren. Man wartet immer, bis beide zur gleichen Zeit in der richtigen Stimmung sind und das passiert nach zehn gemeinsamen Jahren einfach zu selten – und dann gibt's plötzlich keinen Sex mehr", erzählt die Expertin. "Ein anderer Teil meiner Klient*innen folgt dem Wunsch, ihre Palette von sexuellen Möglichkeiten zu erweitern."

Eine Einschränkung hat Slow Sex allerdings, wie Yella betont: "One Night Stands sind meistens zu aufregend und mit Spannung beladen für Slow Sex. Außer natürlich, beide einigen darauf und probieren es einfach mal aus. Aber das muss man vorher absprechen, von alleine passiert Slow Sex bei One Night Stands in der Regel nicht."

Sex nach Termin? Unbedingt!

Slow Sex könnt ihr nach Termin haben, eben weil es keine Erregung oder die richtige Stimmung braucht. Euer Wunsch, zusammen Zeit zu verbringen, reicht. "Ich sag den Leuten immer, dass das wie ein Arbeitstermin funktioniert. Macht es zu einem Punkt auf der Agenda", betont Yella. 

Aber passt das stundenlange Liebesspiel überhaupt in einen stressigen Tag? Dazu hat Yella Cremer eine ganz klare Meinung: "Die Aussage 'keine Zeit' stelle ich grundsätzlich infrage. Solange wir durchschnittlich vier Stunden Medien konsumieren am Tag, können wir auch Slow Sex haben."

Slow Sex: Geheimtipps der Expertin

Sich nackt nebeneinander ins Bett zu legen, ist der Beginn eurer Slow-Sex-Stunde(n). Yella Cremer gibt ihren Klint*innen allerdings noch weitere Tipps an die Hand. Zentral ist die Frage, was ihr braucht, um euch sicher zu fühlen. Denn nur, wer sich sicher fühlt, kann sich entspannen.

"Schließt die Fenster, damit ihr nicht insgeheim befürchtet, dass die Nachbarn euch hören. Schmeißt alles raus, was euch an die Arbeit oder an irgendwelche Pflichten erinnert. Eltern schließen am besten die Tür ab, damit niemand ins Zimmer platzen kann. Sorgt dafür, dass euch warm genug und das Licht nicht zu grell ist", zählt der Intimitätscoach auf. "Es geht darum, einen Raum zu erschaffen, in dem ihr entspannt sein könnt."

Die Vorbereitungen sollten nicht so umfassend sein, dass daraus eine neue Hürde entsteht. Wer vor dem (Slow) Sex noch putzen muss, wird wahrscheinlich keinen Sex mehr haben. Deswegen braucht es auch nicht zwingend Kerzen, Räucherstäbchen oder romantische Hintergrundmusik – es sei denn, ihr wünscht es euch. 

Gestaltet euren Slow Sex so, dass ihr nach allen Regeln der Kunst genießen könnt. 

Slow-Sex-Expertin Yella Cremer - Foto: Christopher Bennet
Unsere Expertin

"Guter Sex lässt sich lernen" Yella Cremer arbeitet als Sexpertin und Intimitätscoach und hält Vorträge, Workshops und Onlinekurse zu Sexualität und persönlicher Entwicklung. 2012 gründete sie die Liebes- und Sexschule LoveBase. Yella selbst bezeichnet sich als "Anstifterin zu mehr Genuss" – und was ist Slow Sex, wenn nicht Genuss pur?

Auch auf Instagram klärt Yella Cremer über Slow Sex auf:

Quellen

  • PD Dr. Julia Velten und Dipl.-Psych. Umut C. Özdemir: Fortschritte der Psychotherapie Band 87: Sexuelle Funktionsstörungen bei Männern. Hogrefe Verlag; 2023, 118 Seiten

  • Diana Richardson: Slow Sex: Zeit finden für die Liebe. Integral; 12. Edition (3. Oktober 2011), 240 Seiten

Artikelbild & Social Media: South_agency/iStock