Wie es ist, seinen Vater nie kennengelernt zu haben
Ich habe meinen Vater nie kennengelernt. Der Grund ist nicht, dass er sich einfach aus dem Staub gemacht hat, sondern gestorben ist, als ich sieben Monate alt war. Dieses Jahr überlebe ich meinen Vater. So fühlt es sich an, um jemanden zu trauern, den man nie kennenlernen durfte.
Letzte Nacht habe ich von meinem Vater geträumt – zum ersten Mal in meinem Leben und ich bin jetzt 37. Ich war auf einer Chorprobe und er kam plötzlich hinzu. Ich sah ihn und habe ihn ganz doll umarmt. Ich konnte ihn richtig sehen: Seine Statur, die einen Kopf größer ist als meine, seine blauen Augen, seine blonden Haare, aber was noch überwältigender war: Ich konnte ihn durch die Umarmung körperlich spüren. Etwas, was ich überhaupt nicht kenne, denn ich habe keinerlei Erinnerungen an ihn – zumindest keine bewussten. Vielleicht war aber dieses überwältigende Gefühl, als ich meinen Vater im Traum umarmt habe, eine Erinnerung daran, wie er mich als Baby umarmt hat, ein wirklich schöner Gedanke.
Mein Vater wurde nur 38
Mein Vater verstarb mit 38 ganz plötzlich an einem Herzinfarkt. Dieses Alter erreiche ich in einem Jahr und es ist ein sehr beklemmendes Gefühl. Wenn ich mir vorstelle, was ich alles noch erleben möchte, wird mir bewusst, wie wenig mein Vater von seinem Leben hatte. Mein Vater war lange ein richtiger Junggeselle und hatte alles andere als einen gesunden Lebensstil, hat viel gefeiert. Meine Mutter hat er erst wenige Jahre vor seinem Tod kennengelernt und sein Leben komplett verändert. Ich war sein erstes und einziges Kind – wenigstens durfte er mich noch einige Monate erleben.
So nah und doch so fern
Ich konnte ihn leider nicht bewusst erleben. Wenn ich Fotos von ihm sehe, ist es wie eine fremde Person anzuschauen, der ich allerdings extrem ähnlich sehe. Alle sagen, er war ein sehr liebevoller Mensch und ich habe nicht nur meine blauen Augen, sondern auch mein kreatives Talent von ihm.
Ich kann das alles nicht beurteilen. Ich trauere sehr darüber, dass ich ihn nicht kennenlernen durfte, und möchte am liebsten jetzt sofort in meinen Traum zurück, in dem ich ihn sehen und fühlen konnte.
Ich habe mir fest vorgenommen, mich dieses Jahr auf die Spuren meines Vaters zu machen. Ich möchte die Stationen abfahren, wo er gelebt hat, mit seinen Freunden und der Familie sprechen, damit ich ein klareres Bild von ihm bekomme. Viel zu lange habe ich diesen Teil von mir verdrängt. Ich weiß, dass es verdammt schmerzhaft werden wird. Aber ich werde mich dieser Aufgabe stellen, um seine und meine Geschichte zu begreifen.
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