Interview mit einer Betroffenen

So fühlt es sich an, mit einer sozialen Phobie zu leben

Wie fühlt es sich wirklich an, unter sozialer Phobie zu leiden? Michelle leidet schon lange unter dieser Angststörung und hat uns berichtet, welche Hürden sie täglich meistern muss.

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Für Menschen mit einer soziale Phobie ist der Alltag oft gar nicht zu bewältigen. Betroffene erleben zwischenmenschlichen Kontakt als Extremsituation und reagieren mit starker Angst bis hin zu Panikattacken. Aber wie fühlt es sich wirklich an, mit einer sozialen Phobie zu leben und was können Betroffene tun? Michelle, die selbst seit langer Zeit unter sozialer Phobie leidet, berichtet uns, wie es sich anfühlt mit dieser Krankheit zu leben. Normalerweise gibt Michelle als @die_hausmutter Putztipps, ihre psychische Erkrankung ist nicht im Vordergrund. Umso mehr freuen wir uns, dass Michelle sich uns so sehr geöffnet hat.

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Michelle leidet unter einer sozialen Phobie.
Michelle lässt sich von ihren Ängsten nicht unterkriegen. Foto: Michelle Strudthoff

Wie und wann hat sich deine soziale Phobie bemerkbar gemacht?

Michelle: "Das Ganze fängt ziemlich schleichend an. In der Grundschule war ich noch eine richtige Draufgängerin, auf der weiterführenden Schule wurde ich sehr schüchtern, beim Start meiner Ausbildung schaffte ich es schon nicht mehr einen Anschluss zu finden und nach der Ausbildung mit etwa 18 Jahren war es dann völlig vorbei mit den sozialen Kontakten. Wirklich bewusst wurde mir mein Problem aber erst zwei Jahre später. Da hatte ich ein Schlüsselerlebnis, als mich meine Oma anrief und ich es nicht mehr schaffte ans Telefon zu gehen. Man sucht vorher Ausreden, weshalb man mit Fremden nicht redet, aber es gibt keine Ausreden für das Ignorieren von Anrufen, die von der Familie stammen. Mir wurde es sogar unangenehm mit meinem eigenen Mann ein Telefonat zu führen, obwohl es nur kurze Gespräche aus dem Supermarkt oder Ähnliches waren."

Was tust du, um deine Ängste zu bewältigen?

Michelle: "Angefangen hatte ich alleine, weil ich nicht in der Lage war mit jemandem über mein Problem zu reden. Man schafft es kaum, in der Familie noch zu reden, und sich Fremden anzuvertrauen ist da einfach unmöglich.

Zunächst hatte ich mich im Internet schlau gemacht, wie sich mein Problem überhaupt nennt. Ein weiteres Jahr verging allerdings, ohne dass ich etwas gegen meine soziale Phobie machte. Mit Eintritt in den Kindergarten meines ältesten Kindes kam erst Schwung in die Sache. Plötzlich musste ich mit Fremden reden, und weil ich wissen wollte, wie das Leben meines Kindes im Kindergarten so aussieht, wollte ich eben auch am Elternabend teilnehmen. Es kostete mich unfassbar viel Überwindung überhaupt dort hinzufahren und beim Elternabend selbst wurde ich plötzlich als Elternsprecherin vorgeschlagen. Ich stimmte zu und verbrachte den Abend mit der Suche nach Therapiemöglichkeiten bei Angststörungen und kam auf die Konfrontationstherapie. Bei dieser Therapieform geht man in die Angstauslösenden Situationen hinein, also für mich der Besuch eines Elternabends, etwas im Familienkreis erzählen oder eben die Vereinbarung eines Arzttermins übers Telefon."

Machst du eine Therapie?

Michelle: "Im Anschluss wurde ich von einem Psychologen betreut allerdings nie so, dass er mich in diesen Situationen begleitete oder mir Anweisungen gab. Es war dann ein Austausch über Erfolge, Misserfolge und woran ich noch arbeiten muss und möchte usw. Ich hatte es zu diesem Zeitpunkt aber schon geschafft keine Panikattacken mehr zu bekommen. Im Wartezimmer schlug mir das Herz trotzdem bis zum Hals, kribbeln im Bauch, Schweißausbrüche und zittrige Hände, aber das konnte ich aushalten und es passierte unmittelbar vor der Situation."

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Wie ist es als Mutter mit einer sozialen Phobie zu leben?

Michelle: "Es ist die reinste Katastrophe und vor allem schädlich fürs Kind. Mein Sohn hatte kaum soziale Kontakte, da ich regelrecht vom Spielplatz flüchtete, wenn andere Eltern auftauchten. Er übernahm meine soziale Phobie und war allgemein sehr ängstlich. Kinder waren da gar nicht so das Problem, aber mit Erwachsenen konnte er nicht reden. Das fällt ihm mit seinen fast sieben Jahren noch immer schwer. Ich bin froh das mein Mann das absolute Gegenteil von mir ist und so unserem ältesten Sohn ein positives Beispiel sein konnte, ich will gar nicht wissen wie viel schlimmer es sonst hätte sein können mit ihm."

Wie geht es dir jetzt?

Michelle: "Gut, würde ich sagen. Das Telefonieren bereitet mir heute noch Probleme, aber nicht mehr in dem Ausmaß von damals. Bei meiner Oma gehe ich inzwischen ran, aber einen Termin beim Arzt besorge ich mir noch immer vor Ort. Im privaten Umgang bin ich noch etwas nervös, wenn ich Freunde besuche und mich dort auch fremde Menschen erwarten, aber das ist inzwischen ertragbar und ich weiß ja, dass sich diese Anspannung mit der Zeit lösen wird. Die Angst vor der Angst ist völlig weg."

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Was rätst du anderen Betroffenen?

Michelle: "Handelt, so schnell es geht. Jeder Tag, an dem man sich zurückzieht, macht das Ganze nur noch schlimmer. Im Idealfall schafft man es sich jemandem anzuvertrauen, der einen unterstützen kann, indem er einen einfach in diese schwierigen Situationen reinzieht. Ansonsten kann man sich kleine Ziele stecken, wie das nachfragen bei der Kassiererin, wie es ihr geht, oder man nimmt sich vor beim nächsten Familientreffen von einem Erlebnis zu berichten."

Vielen Dank für deine offenen Worte, Michelle!

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