Intensivstationen voll: Mediziner warnt vor einer "schleichenden Triage" in Deutschland!
Immer mehr Krankenhäuser können keine Intensivfälle behandeln: Es fehlen freie Betten und geschultes Personal. Muss bald nach Triage entschieden werden, wem geholfen wird und wem nicht?
Die vierte Corona-Welle trifft Deutschland härter als jede Welle zuvor. Rekordzahlen von über 60.000 Neuinfektionen pro Tag und eine 7-Tage-Inzidenz von 386,5 sprechen für sich.
Die katastrophale Lage macht sich vor allem in unseren Krankenhäusern bemerkbar: Die Intensivstationen stehen kurz vor dem Kollaps. Immer mehr Expertinnen und Experten warnen deswegen vor einer Triage in Deutschland. Dann müssen Mediziner*innen nach unterschiedlichen Kriterien entscheiden, welcher Krankheitsfall auf der Intensivstation behandelt wird – und welcher nicht.
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Intensivstationen voll: Bundesländer vor dem Kollaps
Laut DIVI Intensivreport sind deutschlandweit aktuell 19.373 Intensivbetten belegt und nur noch 2.704 frei (Stand 22. November). Mit COVID-19 liegen derzeit 3.845 Menschen auf der Intensivstation (ITS). 1.968 davon – also 51 Prozent – müssen invasiv beatmet werden.
Die einzelnen Bundesländer melden dramatische Zahlen. So verzeichnet Rheinland-Pfalz mit einer Bettenbelegung von 78,64 Prozent den niedrigsten (!) Wert. In Bayern, Sachsen und im Saarland sind über 88 Prozent aller ITS-Betten belegt, in Berlin fast 90 Prozent. Die höchste Auslastung meldet Bremen: Dort sind 92,18 Prozent aller verfügbaren Intensivbetten belegt. Nur noch 14 Betten sind frei.
Personalmangel verschärft die Situation
Die immer knapper werdenden Betten sind nur ein Teil des Problems. Denn selbst wenn es noch tausende freier Intensivbetten und Beatmungsgeräte geben würde, fehlt geschultes Personal, um diese Betten zu versorgen.
Roland Engehausen, Geschäftsführer der Bayerischen Krankenhausgesellschaft, erklärt dazu: "Eine Intensivkraft hat eine fünfjährige Ausbildung, denn eine Intensivstation bedeutet Behandlung mit allerhöchster Aufmerksamkeit rund um die Uhr."
Aufgrund der extremen Belastungen in der Corona-Krise haben zahlreiche Pflegekräfte ihren Job aufgegeben. Zusätzlich fallen täglich Mitarbeitende aus, weil sie sich selbst mit Corona infiziert haben.
Mediziner*innen schlagen Alarm
Erik Bodendieck, Präsident der sächsischen Landesärztekammer, warnte zu Beginn der Woche im "Deutschlandfunk" davor, dass in einigen Regionen des Freistaates schon bald mehrere Patientinnen und Patienten um ein Intensivbett konkurrieren könnten. "Wer das bessere Überleben oder die bessere Aussicht auf Erfolg der Behandlung hat, der kommt dann an das Beatmungsgerät, und der andere wird dann nicht beatmet. Das heißt, der Ungeimpfte hat auf alle Fälle, wenn er an die extrakorporale Beatmung muss, die sogenannte ECMO, eine sehr schlechte Überlebenschance", machte der Experte das Prinzip der drohenden Triage deutlich.
Aus Bayern kommen ähnliche Warnungen. Die Arbeitsgemeinschaft der bayerischen Notärzte (agbn) wandte sich in einem offenen Brief an den bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder (CSU) und betonte darin: "Wir haben Bilder von sich stauenden Rettungswagen vor Kliniken in den vergangenen 20 Monaten bereits gesehen und kennen Berichte von Kolleginnen und Kollegen aus dem europäischen Ausland. Dies gilt es mit allen Mitteln zu verhindern."
"Schleichende Triage" droht
Clemens Wendtner, Chefarzt der Klinik für Infektiologie an der München-Klinik Schwabing, hat 2020 die ersten Corona-Patienten behandelt. Er ließ im Interview mit dem "RedaktionsNetzwerk Deutschland" keinen Zweifel daran, wie dramatisch die Lage ist. "Deutschlandweit gewöhnen wir uns gerade an rund 50.000 Neuinfektionen pro Tag, Tendenz steigend. Und wir wissen, dass circa 0,8 Prozent aller SARS-CoV-2 infizierten Menschen in der Regel erst mit mehrwöchiger Verzögerung auf den Intensivstationen zu sehen sind. Dies bedeutet konkret 300 bis 400 neue Intensivpatienten mit COVID-19 pro Tag bei anhaltend hohen Neuinfektionen", verdeutlichte er.
In diesem Fall sei die Triage nur noch eine Frage der Zeit. Wenn überhaupt.
Triage in Deutschland: Ein Corona-Phänomen
Ende 2020 kam das Schlagwort Triage hierzulande zum ersten Mal auf. Mit Blick auf die verheerende Infektionslage in Italien hatten viele Menschen Angst davor, dass auch in Deutschland Patientinnen und Patienten nach ihrer Überlebenschance eingeteilt werden würden.
Denn auf den Punkt gebracht bedeutet Triage genau das: Mediziner*innen schätzen ein, wie hoch die Überlebenschancen eines bestimmten Notfalls sind und entscheiden dann, ob dieser intensivmedizinisch behandelt wird – oder eben nicht.
Faktoren, die die Entscheidung beeinflussen, sind:
• Schwere der aktuellen Erkrankung
• Patientenwille (z.B. Patientenverfügung)
• aktueller Allgemeinzustand (Laborwerte, Gebrechlichkeit)
• mögliche lebensbedrohliche Votrkrankungen (z.B. Krebserkrankungen, ausgeprägte Herzinsuffizienz, etc.)
Mehr darüber erfährst du in unserem Artikel "Triage in der Corona-Krise: Was bedeutet das eigentlich?".
Triage: Wem wird wie geholfen?
Natürlich bedeutet Triage nicht, dass Patientinnen und Patienten mit schlechteren Aussichten gar keine medizinische Versorgung erhalten. Sie werden selbstverständlich im Krankenhaus versorgt – nur eben nicht auf der Intensivstation. In anderen Fällen werden Erkrankte zwar auf der ITS versorgt, müssen diese aber früher als geplant wieder verlassen, um Platz zu schaffen für neue Intensivfälle.
"Wir müssen Patientinnen und Patienten, die wir gerne noch auf Intensiv behalten würden, weil sie dort schlicht und einfach besser überwacht und sicherer versorgt sind, auf die Normalstation legen", bestätigte Jens Deerberg-Wittram, Geschäftsführer der RoMed Kliniken Rosenheim laut "br24". "Das ist nicht gut, weil es das Patientenwohl gefährdet."
Es bleibt zu hoffen, dass Deutschland es schafft, die vierte Corona-Welle zu brechen – nicht nur um die drohende Triage hierzulande zu verhindern.
Artikelbild & Social Media: IMAGO / Ralph Lueger