Reportage

Weitergehen oder eingreifen? Vor deinen Augen wird ein Kind angebrüllt

Reporterin Sabine Kinkel hat solch eine Situation erlebt. - und was der Kinderschutzbund empfiehlt.

Weinendes Mädchen hält sich Hände vor das Gesicht.
Foto: Symbolbild: Motortion/iStock
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Sabine Klink, Reporterin bei der Zetschrift "Tina", hat es oft erlebt, dass Kinder in der Öffentlichkeit angeschrien werden. In ihrer Reportage berichtet sie darüber und zieht den Kinderschutzbund zu Rate.

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Es ist nicht das erste Mal, dass ich so etwas erlebe. Gewalt gegen ein schutzloses Kind. Und glauben Sie mir, ich schreibe hier nicht über ein quengelndes, nach Süßigkeiten kreischendes Kind, das seine Mutter zur Weißglut bringt. Kein normaler Wahnsinn, durch den doch alle Eltern und Kinder (ich auch!) mal gehen. Nein, das hier war anders. Am Wochenende, im Hamburger Einkaufszentrum Mercado, hörte ich, während ich noch in einem Bekleidungsgeschäft war, eine Frau schreien. Fragmente wie: „Ich warne dich! Du Scheißer!“

Wegzusehen, zu schweigen heißt: Unrecht zu unterstützen

Es ist nicht das erste Mal, dass ich so etwas erlebe. Gewalt gegen ein schutzloses Kind. Und glauben Sie mir, ich schreibe hier nicht über ein quengelndes, nach Süßigkeiten kreischendes Kind, das seine Mutter zur Weißglut bringt. Kein normaler Wahnsinn, durch den doch alle Eltern und Kinder (ich auch!) mal gehen. Nein, das hier war anders. Am Wochenende, im Hamburger Einkaufszentrum Mercado, hörte ich, während ich noch in einem Bekleidungsgeschäft war, eine Frau schreien. Fragmente wie: „Ich warne dich! Du Scheißer!“

Als ich aus dem Geschäft trat, sah ich sie: Die Mutter, ich schätze Anfang 30, saß auf dem Fußboden links vom Eingang, um sich herum mindestens sechs große Einkaufstüten. Davor ein knapp dreijähriger Junge in Latzhose, ohne Jacke. Stumm. Er stand einfach nur da und sah zu seiner Mutter.

Ohne innezuhalten ging ich weiter, mir schossen Gedanken wie „Schrecklich, bloß schnell weg hier, du hast keine Zeit, misch dich lieber nicht ein!“ durch den Kopf. Auch andere Leute gingen vorbei, einige drehten sich um, schüttelten den Kopf, keiner hielt an. Ich auch nicht. Ich wollte schnell noch im Dekoladen gleich nebenan etwas zurückgeben, dann nach Hause.

Im Dekoladen hörte ich weiter das Geschrei und dachte: „Nein! Das geht nicht.“ Ich ging zurück und wusste: Das wird jetzt schwierig.

Wie aber dazwischengehen, ohne dass die Sache eskaliert?

Die Mutter saß immer noch inmitten ihrer Einkäufe, stopfte wirr Dinge von einer Tüte in die andere und schrie dabei ihren Jungen an. Der hatte sich nicht vom Fleck gerührt, wiegte sich nur unter den verbalen Attacken hin und her, hielt die Arme voller Scham verschränkt an die Ohren, verzweifelt, in der Falle. „Wehe, du bewegst dich, ey! Zu Hause bist du dran! Ich schwör’s dir, ich mach’ dich fertig. Du bist scheiße, hörst du?“

Die Frau war offensichtlich psychisch nicht gesund und damit für mich unberechenbar. Wie also sollte ich dazwischengehen, ohne dass sie noch aggressiver würde, die Sache noch eskalierte, was für den Kleinen ja noch schlimmer wäre?

Ich wusste es nicht. Alles, was ich denken konnte, war: „Los jetzt, Sabine. Tu etwas, sie muss aufhören, ihn so anzuschreien. JETZT!“

Ich näherte mich langsam und winkte dem Kleinen zu, schließlich war ich für ihn ja eine fremde große Frau mit Maske. Kurz lüftete ich die Maske, damit er mein Lächeln sehen konnte. Er sah mich mit großen Augen an. Seine Mutter sah zu mir hoch, woraufhin ich mich zu ihr mit Abstand auf Augenhöhe hinhockte und „Hallo“ sagte. Stille. Sie packte weiter.

Der Junge stand wie angewurzelt da und sah mich an

„Ganz schön stressig, diese Einkäufe.“ Sie sah mich kurz an, dann packte sie weiter, wirr. Der Junge stand wie angewurzelt da und sah mich an. „Kann ich euch helfen?“, fragte ich sie. Eisiger Blick.

Dann wedelte sie mit den Händen, als wollte sie mich wegwischen: „Helfen? Wollen Sie sich einmischen? Mir sagen, wie ich mein Kind zu erziehen habe? Los! Weitergehen! Das hier geht Sie nichts an!“ Ich hatte es geahnt, doch bei ihrem letzten Satz klickte es in meinem Hirn. Geht es mich wirklich nichts an, wenn ein Kind, egal ob verbal oder körperlich, misshandelt wird? Doch, das geht mich an.

Weil ich Augen und Ohren habe und ein Mitmensch bin. Wenn vor meinen Augen einer Frau, einem Kind, Mann, Hund, Katze, Baum, Meer Unrecht widerfährt, geht es mich an.

Zum Glück kam mir ein vor langer Zeit gelernter Satz zur Hilfe: „Wirst du Zeuge, wenn Unrecht geschieht, musst du etwas dagegen tun oder sagen – denn mit deinem Schweigen unterstützt du sonst das Unrecht.“

Daumen hoch, liebes Zwinkern – mehr hatte ich nicht zu geben.

Das alles ging mir in Sekunden durch den Kopf, und ich erwiderte: „Doch, es geht mich schon etwas an. Ich höre ja, wie Sie den Kleinen anschreien, und sehe, dass es ihm nicht gut geht.“ Sie blieb still, stopfte weiter ihre Tüten. „Kann ich was abnehmen?“

„Nein, einfach weitergehen. Los, hau ab!“ Ich sah zu dem Jungen, der immer noch mit halb runtergerutschter Latzhose mit beiden Händen an seinen Ohren rieb. Ich hatte keine Idee. Zog meine Maske noch mal runter, lächelte ihn an und sagte: „Du bist ein ganz toller Junge. Wirklich! Ich gehe jetzt nach Hause und denke an dich. Dass du noch schön spielen kannst heute.“

Daumen hoch, liebes Zwinkern – mehr hatte ich nicht zu geben. Er sah mich an, als versuchte er, meine Worte zu verstehen. Dann drehte ich mich um und ging.

Was wird aus einem Kind, das den ganzen Tag angebrüllt wird?

Schlimm. So zu gehen, den Jungen so zurücklassen zu müssen. Ich hätte ihn ja schlecht mitnehmen können. Hatte ich irgendetwas bewegt? Dass die Mutter ihr Verhalten überdenkt? Was muss der Junge ertragen?

Wie sieht sein Tag aus, jetzt, wo Kitas geschlossen haben? Gibt es jemanden in seinem Leben, der ihm vermittelt, dass er wertvoll ist? Eine Instanz, die auf seine Not aufmerksam wird? Nachbarn? Angehörige? Was wird aus einem Kind, das von morgens bis abends angebrüllt – und womöglich geschlagen wird?

Kurz darauf sehe ich im NDR im „Hamburg Journal“ einen Bericht über häusliche Gewalt gegen Kinder. Ralf Slüter vom Kinderschutzbund berichtet, wie der Verein mit Schulen und Familien zusammenarbeitet.

Ich rufe ihn am nächsten Tag an, erzähle ihm die Geschichte. Lesen Sie unten seine Einschätzung und seinen Rat für alle, die nicht wegsehen und wirkungsvoll helfen möchten.

„Jedes Kind hat ein Recht auf gewaltfreie Erziehung“

Die Zeitschrift "Tina" sprach mit Ralf Slüter vom Kinderschutzbund. Der Verein hilft bundesweit und regional Kindern in Not und steht auch überforderten Eltern und Menschen zur Seite, die helfen wollen.

Herr Slüter, was sagen Sie zu der Geschichte?

Furchtbar. Wenn die Mutter ihr Kind immer so anspricht, ist das psychische Misshandlung. Fürs Kind ist es wie Schläge kriegen, weil es das Gefühl bekommt, es kann nichts richtig machen, ein falscher Mensch zu sein.

Wie hätte ich besser reagiert?

Schwierige Situation, weil Sie von der Mutter sicher nicht die Reaktion bekommen, die Sie sich wünschen. Sie scheint mit sich und dem Leben überfordert und schämt sich, wenn Sie auf sie zugehen. Sie versucht, ihr Gesicht zu wahren. Das heißt aber nicht, dass das, was Sie gesagt haben, nicht bei ihr angekommen ist. Es kann sein, dass sie später darüber nachdenkt.

Welcher Satz wäre besser gewesen?

„Ich mache mir richtig Sorgen um Ihr Kind. Weil ich weiß, dass das nicht gut für Kinder ist, sie sich schlecht und wertlos fühlen, wenn man so mit ihnen spricht.“ So greifen Sie die Mutter nicht an, teilen ihr aber Ihre Sorgen mit. Es ist immer gut, etwas zu tun. Wenn Unvorhergesehenes passiert, hat das Wirkung.

Wie kommt die Gewalt ans Licht?

Das Drama ist, nicht nur die Eltern verstecken, sondern auch die Kinder, weil sie sich schämen. Kinder sprechen selten aktiv an, geben eher versteckte Hinweise an Erzieher, Lehrer, Nachbarn, Polizei, Menschen auf der Straße, über das, was ihnen geschieht.

Was sind das für Hinweise?

Wenn ein Kind sich plötzlich verändert, keine Hausaufgaben mehr macht, aufgeregt ist, ohne sichtbaren Grund anfängt zu weinen, zuckt, wenn man sich hinter es stellt. Dann geht es darum zu verstehen, was dahintersteckt. Aufmerksam zu sein und mit dem Kind zu sprechen.

Wann werden Eltern gewalttätig?

Bei Gewalt haben die Eltern oft das Gefühl, dass das Kind ihnen etwas Böses will. Wenn sie ihr Kind schütteln, weil es unaufhörlich schreit, denken sie, es tut das nur, um sie zu stressen.

„Es ist wichtig, dass Kinder davon erfahren, dass sie Gewalt nicht aushalten müssen.“
Ralf Slüter, Kinderschutzbund

Darf ich ein Kind in Schutzgewahrsam nehmen?

Nein! Das darf nur die Polizei! Bei Gefahr im Verzug dürfen Sie natürlich einschreiten und sollten Polizei und Jugendamt anrufen. Wenn Sie unsicher sind, können Sie den Kinderschutzbund in Ihrer Region anrufen und um Rat bitten.

Wie helfen Sie den Kindern?

Es ist total wichtig, dass Kinder davon erfahren, dass sie das nicht aushalten müssen. Sie haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung, Schutz und Sicherheit. Der Kinderschutzbund bietet Eltern in Überforderungssituationen Hilfe an, wir haben regionale Kinderschutzzentren, arbeiten mit Hebammen und Sozialpädagogen zusammen. Wir bilden Schulen in Sachen Kinderschutz aus, damit die mit den Kindern und Eltern ins Gespräch kommen können. Und wir bieten Therapien für Kinder an.

Akute Hilfe des DKSB: Das Kinder- und Jugendtelefon: 08 00/1 11 03 33, Mo. bis Sa., 14 bis 20 Uhr

Der Kinderschutzbund Hamburg Infos über die Arbeit des Vereins und Spendenkonto.

Warst du auch Zeuge eines Unrechts? Maile Sabine Klink mit Stichwort „Aktiv gegen Unrecht“ an sabine.klink@tina.de oder schreibe an: Redaktion tina, Brieffach 3 08 35, 20077 Hamburg

Die Leseraktion wird ganz oder in Teilen in Print und digital veröffentlicht.

Schau dir im Video an, welche Erziehungsfehler deinem Kind gefährlich schaden können.

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Video: Glutamat

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