Symbiotische Beziehung: Wenn aus Liebe Abhängigkeit wird
Warum manche Paare so sehr miteinander verschmelzen, dass von den Einzelpersonen nichts mehr übrig bleibt. Die Gefahren einer symbiotischen Beziehung.
Kennst du auch diese Menschen, die, sobald sie in einer Beziehung sind, nicht mehr als Individuen, sondern nur noch als Einheit auftreten und in der Wir-Form sprechen? Gerade zu Beginn einer neuen Liebesbeziehung möchten viele Menschen so viel Zeit wie möglich mit ihrem Partner oder ihrer Partnerin verbringen. Verständlich!
Doch wenn du dich plötzlich nur noch auf dein*e Partner*in fokussierst, deine anderen sozialen Kontakte vernachlässigst und deine eigenen Interessen und Hobbys aufgibst, machst du dich abhängig. Eine Garantie, dass eine Beziehung für immer hält, gibt es nicht. Wenn du dich von deinem Partner oder deiner Partnerin abhängig machst, kann es passieren, dass du in ein Loch fällst, sollte sich jemals etwas an eurem Beziehungsstatus verändern.
Symbiotische Beziehung: Die Verschmelzung zweier Menschen
Was bedeutet es, wenn zwei Menschen eine symbiotische Beziehung führen? Der Duden beschreibt eine Symbiose als „das Zusammenleben von Lebewesen verschiedener Art zu gegenseitigem Nutzen“.
Bei einer Symbiose zwischen zwei Menschen geht es in der Regel über den gemeinsamen Nutzen hinaus. Vielmehr verschmelzen beide Partner*innen miteinander und machen sich voneinander abhängig. Toxische Beziehungen, in denen du deine eigenen Bedürfnisse hinten anstellst, um deinem Partner oder deiner Partnerin gerecht zu werden, machen dich letztlich nur einsam.
Die Hamburger Paar- und Familien-Therapeutin Dr. Sandra Konrad hat uns verraten, wieso Menschen symbiotische Beziehungen führen und welche Gefahren das mit sich bringt.
Die Gefahren von symbiotischen Beziehungen
Dr. Sandra Konrad: "Eine gesunde Beziehung ist ein lebendiger Organismus, der aus zwei ICHs und einem WIR besteht. Wer sich selbst zugunsten einer Beziehung aufgibt, läuft Gefahr, alles zu verlieren: Sich selbst, das eigene Leben und letztlich auch die Beziehung, die nicht mehr durch lebendige eigene Impulse versorgt wird. Oft liegt eine Selbstwertproblematik hinter solchen Entwicklungen – einer oder beide haben Angst, nicht wertvoll und liebenswert (genug) zu sein, also werden Gefahren im Außen eliminiert.
Das kann dazu führen, dass sektenähnliche Zustände entstehen, in denen der Kontakt zur Familie und zu Freunden schließlich aufgegeben wird. Dreht sich das Paar nur noch um sich selbst, fühlt es sich für eine Weile sicherer an. Aber diese Sicherheit ist trügerisch! Sie muss ständig überprüft werden, das Leben wird enger und enger, bis man schließlich in der Symbiose verschmilzt und sich so gegenseitig die Luft zum Atmen nimmt.
Einer von beiden sucht dann oft ein wenig Distanz, um wieder durchatmen zu können. Diese Bewegung kann als sehr bedrohlich empfunden werden: „Du willst ohne mich Spazierengehen/eine Freundin/deine Kinder treffen? Liebst du mich nicht mehr?“ ICH zu bleiben, ein gewisses Maß an Autonomie zu bewahren heißt nicht, den anderen nicht zu lieben. Im Gegenteil: Es heißt, dass wir erwachsen lieben können. Dass wir freiwillig und bewusst bleiben, vor allem aus Liebe und nicht aus Abhängigkeit."
Kann eine symbiotische Beziehung auf Dauer funktionieren?
Dr. Sandra Konrad: "Wenn beide symbiotisch veranlagt sind, dann durchaus, wobei die Frage eher wäre, wie gesund diese Art der Beziehungsführung ist. Jedes Paar muss individuelle Nähe-und-Distanzbedürfnisse miteinander austarieren, aber genau hier liegt auch die Chance für Wachstum.
Ein sehr ängstlicher Mensch beispielsweise kann lernen zu vertrauen, wenn er mit seinem*r autonomeren Partner*in viele gute Erfahrungen macht. Passt der andere sich den Nähebedürfnissen des ängstlichen Partners oder der ängstlichen Partnerin an und unterwirft sich ihnen gar, dann beweisen sie sich gegenseitig, dass allein das symbiotische Aufeinanderbezogensein eine Garantie für ihre Beziehung ist. Angst ist kein guter Lehrmeister, sie schränkt uns ein und produziert immer mehr Befürchtungen, wenn wir uns ihr nicht stellen."
Wieso eine symbiotische Beziehung ungesund ist
Sind die Partner*innen in einer derart engen Beziehung wirklich glücklich?
Dr. Sandra Konrad: "Klar, denken wir mal an den Anfang unserer Beziehungen zurück: Verliebte sind oft extrem symbiotisch und extrem glücklich! Aber nach einer Weile entsteht mehr Sicherheit miteinander und es werden wieder Freiräume gesucht. In dieser Phase ruckelt es oft, weil die Partner*innen sich hier erst richtig kennenlernen. Im Idealfall pendeln sich Nähe- und Distanzbedürfnisse auf einer für beide erträglichen Stufe ein.
Eine dauerhafte Symbiose lähmt, weil keine Entwicklung mehr stattfinden kann. Sehr symbiotische Partnerschaften sind oft ein Ausdruck von Bindungsunsicherheiten der Beteiligten. Aber Bindungsfähigkeit kann sich entwickeln – allerdings nur, wenn eine Beziehung lebendig bleibt, wenn beide Partner*innen sich einander mit ihren unterschiedlichen Bedürfnissen zumuten, wenn sie Konflikte verhandeln und Schritt für Schritt Lösungen finden. Wer sich immer nur schont, tut weder sich selbst, noch dem anderen, noch seiner Beziehung einen Gefallen. Eine gesunde Beziehung braucht Sicherheit UND Lebendigkeit, Nähe UND Autonomie.
Khalil Gibran hat in seinem Gedicht „Von der Ehe“ schöne Worte für die verschiedenen lebenswichtigen Polen einer Beziehung gefunden: „Und stehet beieinander, doch nicht zu nahe beieinander: Denn die Säulen des Tempels stehen einzeln, und Eichbaum und Zypresse wachsen nicht im gegenseitigem Schatten.“ In anderen Worten: Echte Nähe erdrückt nicht, sie bereichert. Sie lässt Raum für das WIR und die beiden ICHs."
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