Psychologin im Interview

Wendy-Syndrom: Bemuttern bis zur Selbstaufgabe – wie komme ich da wieder raus?

Frauen, die am Wendy-Syndrom leiden, opfern sich für ihren Partner auf und verlieren sich dabei selbst. Woran du erkennst, dass du in der ewigen Mutterrolle feststeckst, und wie du wieder herausfindest, verrät eine Psychologin im Interview.

Frau bemuttert Mann
Foto: Prostock-Studio/iStock
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Du organisierst nicht nur euren gemeinsamen Urlaub, sondern erinnerst deinen Partner an seine Termine beim Friseur, beim Arzt und beim Bürgeramt zur Passverlängerung? Während seine Gesundheit, Wünsche und Ziele für dich im Vordergrund stehen, hast du dich schon ewig nicht mehr gefragt, was DU eigentlich brauchst? Dann könnte es sein, dass du am Wendy-Syndrom leidest. 

Obwohl der Begriff irgendwie niedlich klingt, kann das Wendy-Syndrom Betroffene in die völlige Erschöpfung führen. Dr. Rosalie Weigand, Psychotherapeutin aus Hamburg, erklärt uns im Interview, welche Menschen anfällig sind und nennt Ursachen sowie Behandlungsmöglichkeiten. Außerdem klärt sie die spannende Frage, welcher Typ Mann zu einer Frau mit Wendy-Syndrom passt. 

Was ist das Wendy-Syndrom?

"Frauen mit dem Wendy-Syndrom opfern sich für ihren Partner auf und versuchen auf diese Weise, die Anerkennung und Zuneigung des Partners zu gewinnen", fasst Frau Weigand das psychologische Phänomen zusammen. 

Der Begriff Wendy-Syndrom wurde von dem Psychologen Dan Kiley (1984) geprägt, basierend auf der gleichnamigen Figur aus der Kindergeschichte "Peter Pan". "Ursprünglich wurde das Syndrom in einem populärwissenschaftlichen Kontext eingeführt, um bestimmte Beziehungsmuster zu beschreiben", erklärt die Expertin. 

Wendy Darling ist stellvertretend für eine Super-Mutter: Sie kümmert sich nicht nur aufopfernd um ihre kleinen Brüder John und Michael, sondern übernimmt auch Verantwortung für Peter Pan und die Verlorenen Jungs aus dem Nimmerland, die nicht erwachsen werden wollen. Obwohl sie selbst noch ein Kind ist, geht Wendy voll in ihrer fürsorglichen Rolle auf. Ihre eigenen Bedürfnisse stellt sie hintenan. 

Das Wendy-Syndrom steckt noch in den Kinderschuhen

"Zu beachten ist, dass das Wendy-Syndrom kein umfassend beforschtes Phänomen ist", betont Weigand. "Erstmals im Jahr 2024 wurde von den Psychologen Melek Demir und Meryem Vural Batik eine Skaladie so genannte Wendy-Syndrom-Skala entwickelt, um das Phänomen überhaupt messbar zu machen. Auf dieser Skala kann mithilfe von 16 Items auf den Dimensionen 'Selbstaufopferung', 'Abhängigkeit und Suche nach Anerkennung' und 'Geschlechterrolle' das Ausmaß des Wendy-Syndroms bei einer Person gemessen werden. Dennoch ist dies die bisher erste und einzige Forschungsarbeit, die eine konkrete Messung des Wendy-Syndroms möglich macht." 

Wendy-Syndrom: Bemuttern bis zur völligen Erschöpfung

Nun könnte man sagen, dass es jedem Menschen selbst überlassen ist, wie intensiv er sich um sein*e Partner*in kümmert. Doch das Wendy-Syndrom hat nichts mit gesunder Fürsorge zu tun. "Bei gesunder Fürsorge geht es um Liebe und Unterstützung, beim Wendy-Syndrom geht es um ein Pflichtgefühl sowie das Bedürfnis, gebraucht zu werden", unterstreicht Rosalie Weigand. 

Das Gefährliche am Wendy-Syndrom ist, dass die Betroffenen ihr Gegenüber nicht nur bevorzugen, sondern sich selbst zeitgleich vernachlässigen. In ausgeglichenen Beziehungen übernimmt jede*r mal den fürsorglichen Part. "Beim Wendy-Syndrom herrscht eine Asymmetrie vor: Es kümmert sich (fast) immer nur die Partnerin", so Dr. Weigand.  

Frust und Erschöpfungszustände sind die Folge. Denn wer nur gibt und nie nimmt, der kann irgendwann nicht mehr. Muss die Frau die Fürsorge einstellen – eben weil sie zu erschöpft ist –, wird sie von Selbstzweifeln und Schuldgefühlen geplagt. 

Symptome des Wendy-Syndroms können in Depression gipfeln

Wie verhalten sich Frauen, die am Wendy-Syndrom leiden? Dr. Rosalie Weigand fasst folgende Symptome zusammen:

  • Die Bedürfnisse des Partners werden vor die eigenen gestellt. 

  • Eigene Bedürfnisse und Wünsche werden unterdrückt.

  • Streben nach Anerkennung und Zuneigung durch den Partner 

  • Angst vorm Verlassenwerden

  • Perfektionismus und Neigung zu Schuldgefühlen, wenn sie die Bedürfnisse anderer nicht erfüllt.

"Das Wendy-Syndrom kann zu Erschöpfung, Traurigkeit, Einsamkeit und Anspannung führen, in manchen Fällen sogar zu depressiven Symptomen", macht Weigand auf die negativen Auswirkungen der ewigen Mutterrolle aufmerksam. 

Das Wendy-Syndrom kommt dir bekannt vor?

Aufopfern, bemuttern, sich für die Gefühle des Partners/der Partnerin verantwortlich fühlen, Schuldgefühle – wer dabei ans Helfersyndrom denkt, hat Recht. "Das Helfersyndrom ist allgemeiner gefasst, während der Begriff des Wendy-Syndroms im romantischen/partnerschaftlichen Kontext genutzt wird", führt Weigand aus. "Grundsätzlich können die Ursachen sehr ähnlich sein und die beiden Phänomene gleichzeitig auftreten."

Leiden ausschließlich Frauen am Wendy-Syndrom?

Im Prinzip kann jede Person, unabhängig von Geschlecht und Alter, das Wendy-Syndrom entwickeln, nicht nur Frauen. "Ein niedriges Selbstwertgefühl, Angst vor Ablehnung und Verlassenwerden sowie das Bedürfnis nach sozialer Anerkennung spielen eine wichtige Rolle bei der Entwicklung des Wendy-Syndroms", fasst Rosalie Weigand begünstigende, genderneutrale Faktoren zusammen. 

Es ist allerdings nicht von der Hand zu weisen, dass jahrhundertealte Geschlechterprägungen heute noch dafür sorgen, dass Frauen am ehesten die Rolle der Fürsorgerin übernehmen. Diese Tatsache kann inzwischen mithilfe des sogenannten Gender Care Gap statistisch belegt werden. Dieser Indikator zeigt, wie unterschiedlich der Zeitaufwand ist, den Frauen und Männer für unbezahlte Sorgearbeit aufbringen. Im März 2024 legte das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend die aktuellen Zahlen vor. Demnach wenden Frauen pro Tag im Durchschnitt 44,3 Prozent mehr Zeit für unbezahlte Sorgearbeit auf als Männer. In Zahlen verbringen Frauen pro Woche knapp 30 Stunden mit unbezahlter Sorgearbeit, Männer nur 21 Stunden. 

Zu unbezahlter Sorgearbeit gehören: 

  • Haushalt 

  • Pflege und Betreuung von Kindern 

  • Pflege und Betreuung von Erwachsenen 

  • Ehrenamtliches Engagement 

  • Unbezahlte Hilfen für andere Haushalte

Wendy-Syndrom: Ursachen

Häufig entwickeln Menschen das Wendy-Syndrom, die bereits in der Kindheit in die Mutterrolle gedrängt wurden. Rosalie Weigand führt aus: "Typischerweise hat der Vater in der Familie der Betroffenen wenig Interesse an der Familie und ist oft abwesend. Die Mutter ist typischerweise überfürsorglich, kontrollierend und zugleich kritisch. Das führt zu einem Spannungsfeld für die Tochter und vermittelt ihr das Gefühl, dass die Außenwelt gefährlich und ein Beziehungspartner ohnehin unzuverlässig ist." In der Rolle der sich aufopfernden Mutter erfahren die Betroffenen dann (vermeintliche) Sicherheit. 

Mutterkomplex bei Männern: Perfekt für Wendys?

Es gibt Männer, die bleiben ihr Leben lang ein Muttersöhnchen und stellen ihre Mutter auf ein Podest. Hier würde eine Frau, die voll in der Mutterrolle aufgeht, nur stören. Tatsächlich aber gibt es Männer, die von einer Partnerin mit Wendy-Syndrom profitieren: Jene, die am Peter-Pan-Syndrom leiden. Auch diesen Begriff hat der Psychologe Dan Kiley geprägt. 

"Es handelt sich hierbei um Männer, die Verantwortung vermeiden und Schwierigkeiten haben, Verpflichtungen nachzukommen und sich daher wohlfühlen mit einer Person, die die Dinge für sie regelt", erklärt Weigand im Interview. 

Doch nicht nur Peter Pan funktioniert mit Wendy. Auch Männer mit einer narzisstischen Persönlichkeitsakzentuierung können eine fürsorgliche Partnerin ansprechend finden, weil sie ein übergroßes Bedürfnis nach Aufmerksamkeit und Bewunderung haben. Die Expertin ergänzt: "Zudem sind narzisstische Personen sehr schlecht darin, die Bedürfnisse der Partnerin zu erfüllen, sodass sie gewissermaßen gut harmonieren mit einer Partnerin, die ihre Bedürfnisse erst gar nicht wahrnimmt oder äußert."

Wendy-Syndrom: Behandlungsmöglichkeiten

"Trotz der Vielzahl an negativen Auswirkungen, sind die betroffenen Frauen sich oft nicht im Klaren darüber, was das Problem ist", verdeutlicht Dr. Weigand. In der Verhaltenstherapie, eine der gängigsten Therapieformen, können Betroffene lernen, ihre Muster zu erkennen und mit spezifischen Übungen zu durchbrechen. 

Dr. Rosalie Weigand sieht folgende Interventionsstrategien:

  • Bewusstsein über die Dynamik und deren Ursachen entwickeln ("Was mache ich da?", "Wozu führt das?", "Warum mache ich das?", "Woher kommt dieses Verhalten?")

  • Hinterfragen und Verändern negativer Denkmuster über das eigene Selbst, Bearbeitung von Schuldgefühlen

  • Strategien zur Stärkung des Selbstwertes (Ausbau von Hobbys, sozialen Kontakten außerhalb der Beziehung, Wertearbeit)

Wendy-Syndrom… und Schluss?

Es gibt Red Flags in Beziehungen, bei denen man am besten direkt Schluss macht. Doch wer am Wendy-Syndrom leidet, muss nicht pauschal seine Beziehung beenden. Das extreme Bemuttern ist zunächst nur ein erlerntes Muster, das durchbrochen werden kann. Auch die Partnerin/der Partner ist Teil dieses Prozesses, da sie/er die Symptomatik oft unbewusst verstärkt.

Dr. Rosalie Weigand: "Das Wendy-Syndrom hinter sich zu lassen, ist viel schneller möglich, wenn man den Partner früh in die Therapie miteinbezieht." 

Dr. Rosalie Weigand - Foto: Dr. Rosalie Weigand

Unsere Expertin

Dr. Rosalie Weigand arbeitet als Psychologische Psychotherapeutin für Verhaltenstherapie und Paartherapeutin sowie Dozentin für Psychotherapie in Hamburg. Ihre Überzeugung: "Gesunde Beziehungen lassen sich gestalten". Über ihren Instagram-Kanal und den Blog auf ihrer Homepage möchte sie Menschen dabei unterstützen, eine bessere Beziehung zu sich selbst und anderen zu erlernen. Denn der Weg zu psychischer Gesundheit führt ihrer Meinung nach weder am Ich noch am Du vorbei.  

Quellen

  • Demir, M., & Vural Batik, M. (2024). Wendy Syndrome as "Super Mother": A Scale Development. Journal of Hasan Ali Yücel Faculty of Education/Hasan Ali Yücel Egitim Fakültesi Dergisi (HAYEF)21 (2).

  • Batik, M. V. (2024). Predictors of Cinderella Syndrome and Wendy Syndrome in women: Attachment styles and differentiation of self. Acta Psychologica249, 104475.