Expert*innen-Interview

AD(H)S bei Frauen und Mädchen: Eine Expertin beantwortet dazu alle wichtigen Fragen

Als AD(H)S-Expertin und -Betroffene weiß Dr. Astrid Neuy-Lobkowicz, wie es ist, als Frau mit AD(H)S zu leben. Im Interview erklärt sie, warum wir in einer AD(HS)-Zeit leben und was sich in der Behandlung dringend ändern muss.

Junge Frau schaut konzentriert auf PC-Bildschirm.
AD(H)S kann bei Mädchen und Frauen anders ausgeprägt sein als bei Jungen und Männern (Themenbild). Foto: AdobeStock/peopleimages.com
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Für AD(H)S-Betroffene fühlt sich das Leben anders an: Sie erleben die Welt, ihre Mitmenschen und auch sich selbst anders als Menschen ohne die Aufmerksamkeitsdefizit-(Hyperaktivitäts-)Störung. Vor allem Mädchen und Frauen mit AD(H)S stehen vor einer besonderen Hürde, da bei ihnen die Störung seltener diagnostiziert wird als bei Jungen und Männern. Häufig erhalten Frauen erst im Erwachsenenalter eine Diagnose. Das liegt mit daran, dass sich AD(H)S je nach Geschlecht unterschiedlich äußert und diesbezüglich noch zu viele Wissenslücken bestehen.

Das Interview mit AD(H)S-Expertin Dr. med Astrid Neuy-Lobkowicz

Die Fachärztin für Psychosomatik und Psychotherapie Dr. med Astrid Neuy-Lobkowicz hilft, diese Situation zu ändern, indem sie sich für mehr Aufklärung zum Thema und eine bessere Behandlungssituation einsetzt. Als AD(H)S-Betroffene und behandelnde Ärztin hat sie eine außergewöhnliche Expertise.

Was ist der Unterschied zwischen ADS und ADHS?

Dr. med. Astrid Neuy-Lobkowicz: ADS, das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom, ist der Überbegriff. Das ADHS, das Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom, ist eine Unterform von ADS.

Es gibt zwei verschiedene Formen: Zum einen das ADS des unaufmerksamen Typs, welches häufiger die Frauen haben. Das ist unauffälliger und hat eine andere Symptomatik. Nämlich dass man eher verträumt, verpeilt, langsam, oft auch sehr dünnhäutig, sehr durchlässig, sehr hypersensitiv ist, sich schlecht organisieren kann. Das ist ein sehr unauffälliges Syndrom, das gerade bei Mädchen sehr oft übersehen wird. Zu dem ADS des unaufmerksamen Typs müsste man eigentlich sagen, das ist ein ADHS, ein Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom, ohne Hyperaktivität. Das ist eigentlich völlig unsinnig, aber es hat sich so eingebürgert, dass es ADHS heißt und nicht ADS. Man muss dazu nur wissen, dass eben nicht jede*r hyperaktiv ist.

Und der hyperaktive Typ, als Teil des ADS, ist laut, heftig, ungestüm, impulsiv. Das merkt man den Betroffenen an, da die motorisch unruhig sind – Sprichwort Zappelphilipp. Das haben häufiger die Jungs. Und deswegen werden die auch im Kindes- und Jugendalter viel häufiger diagnostiziert, weil es einfach viel mehr auffällt.

Man kann sich das so vorstellen, in der Klasse sitzen die Jungs, die hyperaktiv sind und laut und ungestüm sind, und da weiß die Lehrerin immer, ob der da war oder nicht. Bei den Mädels, die so wegträumen und ablenkbar sind, fragt sich die Lehrerin oft, war die heute überhaupt da? Weil die Schülerinnen (mit ADS) gar nicht auffallen und Mädchen noch dazu den Wunsch haben, sozial akzeptiertes Verhalten zu zeigen. Das heißt, die bemühen sich, dass es niemand merkt. Mädchen sind gut darin, ihre Symptome zu maskieren. Aber das ist eben zu ihrem Nachteil. 

Und wie erkennt man dann bei Mädchen, ob sie AD(H)S haben? 

Man kann ADS nur diagnostizieren, wenn man die richtigen Fragen stellt:

  • Sind sie verträumt?

  • Sind sie ablenkbar?

  • Können sie sich nur für eine kurze Zeit konzentrieren?

  • Haben sie viele Gedanken im Kopf, die ihnen immer wieder wegspringen?

  • Haben sie ein Problem sich zu organisieren und Ordnung zu halten, aufgeräumt zu sein – sowohl im Kopf wie auch im Äußeren?

  • Haben sie Probleme damit, Aufgaben anzufangen und zu Ende zu bringen?

Das ist ein großes Thema bei ADS, auch bei der hyperaktiven Form, diese Prokrastination, nicht in die Gänge zu kommen und Dinge nicht zu Ende zu machen. Gerade, wenn es Routinetätigkeiten sind und Sachen, die keinen Spaß machen.

Frauen mit ADS sind oft sehr schnell gekränkt, verletzt, fühlen sich schnell angegriffen. Sie sind einfach oft zu sensibel, eigentlich oft hypersensibel und damit extrem vulnerabel.

„Da man mit dem ADS auf die Welt kommt, hat man keinen Vergleich dazu, wie es ist ohne ADS zu leben. “
Dr. med. Astrid Neuy-Lobkowicz

Welche Folgen hat es, dass ADS bei Mädchen zeitverzögert diagnostiziert wird?

Das ist ein großer Nachteil für die Frauen, weil dieser unaufmerksame Typ viel später, wenn überhaupt, wahrgenommen wird und oft falsch diagnostiziert wird. Statt ADS bekommen Frauen dann meist eher die Diagnose Depression oder Angststörung. Und in Studien zeigt sich, dass Frauen drei bis vier Jahre später als Männer diagnostiziert werden. Das ist von Nachteil für die Frauen, weil sie dadurch ja auch später Hilfe bekommen.

Wie wirkt sich eine fehlende ADS-Diagnose im Erwachsenenalter aus?

Das Problem bei den Frauen mit ADS ist eben, dass sie eine 50-prozentige Chance haben, im Laufe des Lebens Depressionen oder Angststörungen zu entwickeln. Und die liegen sozusagen über dem ADS. Es wird dann immer nur gesagt „Ach, die hatte ein Burnout“ oder „Ach, die ist erschöpft“ und keiner fragt sich, wieso ist denn eine junge Frau erschöpft? Und sie sind eben auch oft so erschöpft, weil es so anstrengend ist, die Symptome zu maskieren, und sie sich zusammenreißen zu müssen. ADS-Frauen sind oft auch langsam, umständlich, dann arbeiten sie heimlich, damit niemand merkt, wie langsam sie sind. Sie geben sich ganz viel Mühe, damit sie nicht auffallen, und sind dann oft schon zu einem frühen Zeitpunkt ausgebrannt.

Wir wissen, dass die ADS-Frauen mehr Niederlagen, mehr Misserfolge haben, sie schneiden schlechter ab, als es ihrer Intelligenz entspricht. Und weil man mit dem ADS auf die Welt kommt, hat man keinen Vergleich dazu, wie es ist, ohne ADS zu leben. Und deswegen sind viele Frauen voller Selbstzweifel, oft sogar bis zu Selbsthass: ‚Warum kann ich nicht anfangen? Warum kann ich keine Ordnung halten?‘ Vergesslichkeit ist eben auch ein häufiges Symptom. Und durch diese ständigen negativen Erfahrungen von ‚Ich habe es wieder nicht gekonnt, wieder zu spät angefangen, wieder vergessen…‘ kommt man schon oft sehr verunsichert und voller Selbstzweifel im Erwachsenenleben an und entwickelt dann nur ein geringes Selbstwertgefühl.

Und weiß man, warum sich ADS bei Jungen und Mädchen so unterschiedlich äußert? 

Dass Männer und Frauen gleich sind, stimmt halt einfach nicht. Wir sollten gleichberechtigt sein, aber wir sind einfach nicht gleich – die Frau hat eine andere Genetik als ein Mann. Dazu haben wir ja auch eine Gendermedizin, die erforscht, wie unterschiedlich sich die Symptome der gleichen Krankheiten geschlechtsspezifisch zeigen können und manche Erkrankungen sogar anders behandelt werden müssen.  

„Etwas, das bei ADHS wirklich sehr deutlich ist, ist dass alles, was Spaß macht, einfach ist. “
Dr. med. Astrid Neuy-Lobkowicz

Was sind häufige ADS-Symptome bei Frauen im Erwachsenenalter?

Die häufigste Form im Erwachsenenalter ist der Mischtyp. Das heißt, da hat man sowohl von der hyperaktiven als auch von der unaufmerksamen Seite etwas. Natürlich gibt es auch hyperaktive Frauen und unaufmerksame Männer, aber es kommt andersherum einfach häufiger vor.

Typisch für ADS-Frauen ist: Sie kommen nicht in die Gänge. Es kommt sehr häufig vor, wenn die Frauen sehr intelligent sind und aus einem gut strukturierten Elternhaus kommen, dass diese dann oft sogar noch ein gutes Abitur schaffen, weil sie zuhause sehr viel Struktur bekommen, und sich daran entlanghangeln können.

Kommen diese Frauen dann aber im Erwachsenenalter an und ziehen aus, machen ihre Ausbildung oder ihr Studium, fehlen diese Strukturen plötzlich. Dann können diese auf einmal nicht ihre Wohnung aufräumen, sich nicht immatrikulieren, scheitern an den einfachsten Sachen. Auch das Zeitgefühl hakt, sie kommen oft zu spät und fangen nicht rechtzeitig an. Dazu kommt, dass sie im Chaos versinken, dass sie sich nichts merken können, weil sie so vergesslich und sprunghaft sind, dass sie den Termin vergessen, wann sie irgendwelche Arbeiten abgeben müssen. 

Zuhause waren sie dann noch ganz funktional, aber wenn sie sich dann selbst organisieren müssen, wird das ADS deutlicher. Etwas, das bei ADHS wirklich sehr deutlich ist, ist dass alles, was Spaß macht, einfach ist. Bei allem, was interessant ist, kommen sie in die Gänge. Aber diese Routine und Alltagsaufgaben, die gehen ihnen sehr schwer von der Hand.

Wenn man bei sich selbst mehrere dieser Dinge beobachtet, leidet man dann vielleicht auch an AD(H)S?

Man sollte sich nicht selbst diagnostizieren. Wir haben im Moment eine Überdiagnostik im Internet, weil einfach sehr viel darüber publiziert wird und auch nicht jede*r Influencer*in auch wirklich ADS hat.

Was gefordert ist, ist immer, dass es sich auch wirklich durchs Leben zieht. Jeder ist mal unaufmerksam, impulsiv, oder verletzlich. Aber bei AD(H)S geht es wie ein roter Faden durchs Leben. Zur Diagnose brauchen wir die Schulzeugnisse, wir brauchen die Beschreibung der Eltern, man muss die Kernsymptomatik abbilden. Man darf auch nicht nur anhand von Fragebögen AD(H)S diagnostizieren. Die Kernsymptome sollten sich im Leben immer wieder zeigen.

Wenn jemand glaubt, dass er*sie AD(H)S hat, rate ich ihm*ihr, erstmal ein gescheites Buch über AD(H)S zu lesen, denn AD(H)S ist sehr komplex. Es ist neurodivers, ein komplexes Anderssein mit einem anderen Stärke- und Schwächeprofil. 

Ist AD(H)S heilbar? 

ADHS ist neurodivers: Man kommt damit zur Welt, es ist nicht in der Umwelt entstanden, es hat niemand etwas falsch gemacht, weder Betroffene noch die Eltern, stattdessen ist es eine besondere Art zu sein. 

Es wird in dem neuen Diagnoseschlüssel, dem ICD 11, auch als Strukturerkrankung eingeordnet. Das heißt, dass man AD(H)S nicht abschaffen kann, und Ziel ist es nicht AD(H)S zu eliminieren, sondern mit dieser besonderen Art zu sein einen guten Weg zu finden. Wichtig ist es auch, sich selbst besser kennenzulernen und eine Art Gebrauchsanweisung für sich zu bekommen. Es ist hilfreich, den eigenen Lebenslauf besser zu verstehen, warum es im Leben immer wieder diese Probleme gab. Und dieses Verstehen hilft wiederum, sich selbst mehr zu akzeptieren und ein besseres Selbstwertgefühl zu entwickeln.

Und wir wissen, dass AD(H)S neurobiologisch ist und mit dem Botenstoff Dopamin zusammenhängt. Bei AD(H)S wird Dopamin erblich zu schnell abgebaut und man hat dadurch für die heutige Zeit einen Dopaminmangel. Und das muss man eben verstehen, dass es nicht wie bei anderen psychischen Erkrankungen ein Konflikt ist, sondern dass man einfach genetisch anders ist. Meistens gibt es in einer Familie mehrere Betroffene, weil ADS vererblich ist. 

„AD(H)S ist neurodivers, ein komplexes Anderssein mit einem anderen Stärke- und Schwächeprofil. “
Dr. med. Astrid Neuy-Lobkowicz

Wie therapiert man ADS?

Eine leichte Form von ADS ist nicht immer behandlungsbedürftig, solange man im Leben klarkommt. In der Behandlung gibt es einen Unterschied zu allen anderen seelischen Erkrankungen: Als erstes erfolgt nicht die Psychotherapie, sondern das Hochregulieren des Dopamins. Das macht man mit Methylphenidat (Ritalin) oder Dexamphetamin (Elvanse). Beide ADHS-Formen behandelt man mit den gleichen Medikamenten.

Wir haben zwar sehr gute Behandlungsmöglichkeiten und AD(H)S ist sehr einfach zu behandeln, aber es wird oft nicht korrekt diagnostiziert oder gar nicht, weil Betroffene zu selten Ärzte*Ärztinnen finden, die sich damit auskennen. Und die Betroffenen erhalten dann nicht die medikamentöse Behandlung und Erklärungen, die sie brauchen. 

Wie wirkt sich die Medikation aus?

Wir haben in unserem Gehirn Netzwerke, erklärt die Expertin: "Netzwerke für Aufmerksamkeit, für Konzentration, Motivation, und wenn man zu wenig Dopamin hat, dann sind diese Netzwerke nicht gut verschaltet und können nicht gut miteinander arbeiten. Wenn das Dopamin jedoch hochreguliert wird, ist man wieder klarer, wacher, konzentrierter, kann Sachen besser anfangen und zu Ende bringen.

Die Medikation macht einen klaren Kopf und gibt AD(H)S-ler*innen ein dickeres Fell, damit sie nicht ständig gefühlsmäßig getriggert werden. Das macht einen großen Unterschied, wie man dann die Welt erlebt, weil der Dopaminmangel eine enorme Auswirkung hat. Darum ist es auch so wichtig, AD(H)S richtig zu erkennen, und das ist auch der Grund, warum man bei einer Fehldiagnose mit Antidepressiva nicht so viel erreicht. Mit Antidepressiva bekommt man nur die Depression oder die Angststörung in den Griff und nicht das AD(H)S, weil nur das AD(H)S dieses Dopaminproblem hat."

Ist man „von AD(H)S betroffen“ oder „an AD(H)S erkrankt“?

Ich bin eine ADHS-Betroffene, aber nicht krank. Es ist sehr wichtig, dass wir das Differenzieren und nicht sagen, dass jede*r AD(H)S-ler*in krank ist, sondern erst mal nur neurodivers. Erst wenn man Probleme im Beruf oder in Beziehungen oder aber zusätzliche Begleiterkrankungen entwickelt, wird AD(H)S behandlungsbedürftig. 

Man kann mit AD(H)S nämlich auch ganz vieles besser. AD(H)S hat auch viele positive Anteile, wie z. B. Kreativität, Originalität, Flexibilität und ein hohes Einfühlungsvermögen, oft auch einen hohen Gerechtigkeitssinn. So müssen wir auch Patient*innen nahebringen und ihnen sagen ‚Nein, du bist nicht krank oder eingeschränkt, sondern erst einmal anders und du kannst lernen damit gut zu leben‘.

AD(H)S ist eine Spektrums-Erkrankung, die von der Normvariante bis zu einer schweren psychischen Erkrankung reichen kann, die bei starker Ausprägung auch eine Berentung notwendig machen kann. Im Allgemeinen ist aber AD(H)S sehr gut zu behandeln. 

Wie beeinflusst AD(H)S den weiblichen Zyklus und die Wechseljahre?

Wenn am Ende des Menstruationszyklus die weiblichen Geschlechtshormone Östrogen und Progesteron abfallen, sinkt auch der Dopaminspiegel. Und für ADS-lerinnen bedeutet das eine Verstärkung der Symptome (weniger Dopamin heißt mehr ADS). Und ähnlich erleben wir es in der Menopause, wenn die Eierstöcke die Produktion der Sexualhormone einstellen, wird oft das ADS schlimmer. Beziehungsweise bedeutet das, dass ADS-Frauen mit einer höheren Wahrscheinlichkeit an Wechseljahresbeschwerden wie depressiven Verstimmungen, Hitzewallungen, Schlafstörungen oder Gelenkschmerzen leiden und dann eventuell eine Hormonersatztherapie benötigen.

Mit welchen Problemen haben Mütter mit AD(H)S zu kämpfen?

Für Frauen mit AD(H)S ist es oft eine große Umstellung, wenn sie Kinder bekommen. Sie haben zuhause plötzlich keine Rückzugsmöglichkeit und keine selbstbestimmte Zeit mehr. Dann treten oft erstmals eine extreme Impulsivität und Stimmungslabilität auf. Das liegt zum einen am gestiegenen Stress, aber auch an der Strukturlosigkeit, weil sie keinen geregelten Tagesablauf mehr haben.

Für viele Mütter mit AD(H)S ist das ein Problem, das sie als ungeheuer schamhaft erleben, weil sie ihre Gefühle nicht kontrollieren können. Viele Mütter finden es furchtbar, dass sie nicht die Geduld und die Gelassenheit haben und immer wieder von ihren Kindern getriggert werden. 

„AD(H)S-ler*innen haben keine Reizfilter. Sie nehmen alles wahr, was um sie herum ist, und alles ist für sie gleich wichtig.“
Dr. med. Astrid Neuy-Lobkowicz

Worauf sollten AD(H)S -ler*innen bei der Berufswahl achten?

AD(H)S-ler*innen brauchen eine gute Berufsberatung. Für sie ist wichtig zu wissen, was sie können, wo ihr Potenzial liegt und was ihnen eben nicht liegt. Die meisten können nicht extrem präzise und monoton arbeiten, sondern brauchen Abwechslung, Input und Stimulation. Im richtigen Umfeld und unter den passenden Umständen, können sie sehr funktional sein und sind dann auch nicht behandlungsbedürftig.

Unpassend wäre zum Beispiel ein Großraumbüro, in dem sie ständig abgelenkt wären. AD(H)S-ler*innen haben keine Reizfilter. Sie nehmen alles wahr, was um sie herum ist, und alles ist für sie gleich wichtig. Wenn die gleiche Person in einem ruhigen Arbeitszimmer mit einer spannenden Tätigkeit beschäftigt wird, ist sie ganz anders arbeitsfähig.

Den meisten würde ich raten: Mach etwas, wofür du brennst, was dich wirklich interessiert, was spannend und abwechslungsreich ist, mit Bewegung zusammenhängt. Es ist wichtig, dass man mit ihnen herausfindet, was sie als spannend und interessant erleben.

Welche Begleiterkrankungen sind typisch für Frauen oder Männer mit AD(H)S?

Fast 80 Prozent aller AD(H)S-Betroffenen entwickeln weitere seelische und körperliche Begleiterkrankungen, weil das Leben mit AD(H)S für sie so stressig ist. Männer neigen mehr zu Suchterkrankungen. Frauen haben mehr Depressionen, Angststörungen und auch mehr Essstörungen.

Und was wirklich interessant ist, ist, dass ganz viele körperliche Erkrankungen, deutlich häufiger bei ADS-Betroffenen auftreten: Dazu zählen Bluthochdruck, Typ 2 Diabetes, unspezifische Stresserkrankung, aber auch Autoimmunerkrankungen. Auch allergische Erkrankungen und Migräne, Asthma und Epilepsie treten häufiger auf. Die genauen Zusammenhänge verstehen wir noch nicht, können diese aber statistisch nachweisen.

Wie entwickelt sich AD(H)S im Alter?

AD(H)S bleibt ein ganzes Leben. Es gibt viele gut kompensierte AD(H)S-ler*innen, die im Alter ganz massiv mit ihrem AD(H)S zu tun bekommen, weil sie auf einmal keinen Sport mehr machen können oder berentet werden oder einfach nicht mehr die Stimulation haben wie zuvor. Und daran denkt leider niemand. Wenn die Betroffenen in einem Altersheim sitzen und nicht mehr selbstbestimmt leben können, ist das für diese oft sehr schlimm.

Damit müssen wir uns noch mehr beschäftigen: Wie geht es dann im Leben weiter? Wie unterstützen wir Menschen mit AD(H)S auch in der zweiten Lebenshälfte – und bis zum Ende des Lebens? Weil diese besondere Art zu sein einfach bleibt. 

Sie erwähnen in Ihrem Buch die aktuell bestehende Unterversorgung von AD(H)S-Patient*innen sowie die Dunkelziffer, der nicht diagnostizierten Fälle. Was muss sich ändern damit sich die Situation verbessert?

In Deutschland sind an die 3 Mio. Menschen von AD(H)S betroffen. Und es muss sich in der Versorgung dramatisch etwas ändern: Nämlich, dass jede*r Psychiater*in eine AD(H)S-Diagnostik machen und behandeln können muss, und das haben wir bei weitem nicht. Stattdessen erklären sich die meisten Psychiater*innen als nicht zuständig. Wir haben zu wenig Psychiater*innen und die sind alle überlastet und überarbeitet. Dennoch müssten sich die Psychiater*innen, die wir haben, auch in AD(H)S-Thematiken fortbilden. Jede*r Psychiater*in, jede*r Psychotherapeut*in und Psychosomatiker*in sollte sich mit dieser Erkrankung auskennen – das ist ja schließlich unser Fachgebiet. An sich besteht auch eine Fortbildungsverpflichtung, aber es gibt leider immer noch Unikliniken, die das Fachwissen noch nicht lehren, obwohl wir seit über 20 Jahren sehr genau wissen, dass AD(H)S bei Erwachsenen eine große Rolle spielt. 

Jede*r fünfte bis siebte Patient*in in der psychiatrischen Praxis und in der Psychotherapie hat AD(H)S und benötigt eine störungsspezifische Behandlung. Und wenn man nur die Begleiterkrankungen behandelt, wird das AD(H)S nicht besser. Man vergibt damit eine unglaubliche Behandlungschance.

Es wäre sehr wichtig, dass eine fundierte Diagnostik und eine richtige Behandlung erfolgt. Und dass sich die Psychotherapeut*innen und die Psychiater*innen zuständig erklären. 

„AD(H)S hat auch viele positive Anteile, wie z. B. Kreativität, Originalität, Flexibilität und ein hohes Einfühlungsvermögen, oft auch einen hohen Gerechtigkeitssinn.“
Dr. med. Astrid Neuy-Lobkowicz

Sind heutzutage mehr Menschen von AD(H)S betroffen oder gibt es einfach nur mehr Awareness dafür?

Ich würde sagen, dass beides zutrifft. Wir wissen, dass wir nur 15 bis 20 Prozent der AD(H)S-ler*innen erfasst und richtig behandelt haben. Momentan herrscht aber auch eine Art Überdiagnose im Internet, weil sich viele damit identifizieren und es auch scheinbar im Moment schick ist, AD(H)S oder Autismus zu haben.

Auf der anderen Seite haben wir in der Medizin, in der Psychotherapie, eine Unterversorgung, weil zu wenige Kolleg*innen sich damit auskennen, aber im Netz ständig darüber publiziert wird.

Und wir haben natürlich auch eine Zeit, die gegen ADHS-Betroffene läuft: Unsere Zeit wird immer anspruchsvoller und schneller. Wir haben mittlerweile eine sehr ungesunde Lebensform und eine totale Reizüberflutung, die vor allem AD(H)S-ler*innen überfordert, weil sie dann viel zu viel auf dem Schirm bekommen. Ein weiterer wichtiger Einflussfaktor: Wir haben immer weniger Bewegung. Bewegung und Ausdauersport sind bei ADHS sehr hilfreich.

Auch das ständige Multitasking, das schnelle Wechseln von Inhalten wie z. B. TikTok, zeigt alle 30 Sekunden einen neuen Content. Das zieht ADHS-Betroffene einerseits an, weil sie sich von immer neuen Videos stimulieren und kicken lassen. AD(H)S-ler:innen sind extrem affin bezüglich des Internet, Social Media, Spielen, weil sie dadurch aktiviert werden, aber der Suchtfaktor ist nicht zu unterschätzen. Und nebenbei bleiben die wichtigen Aufgaben auf der Strecke und der Alltag wird nicht mehr bewältigt.

Hätten Sie als ADS-Betroffene noch einen persönlichen Tipp?

Es geht darum, dass eigene Potenzial zu entwickeln, einen guten Platz für sich zu finden, Menschen zu finden, die einem gut tun, und sich selbst besser zu verstehen und sich mit seiner Besonderheit zu akzeptieren. Und auf der anderen Seite, dass man sich für die typischen AD(H)S-Schwierigkeiten wie schlechte Selbstorganisation oder Motivationsstörungen gute Tools zulegen kann.

Und dann ist mir immer ganz wichtig zu sagen, AD(H)S ist wirklich unglaublich gut zu behandeln – es muss halt nur richtig diagnostiziert und richtig behandelt werden. 

Dr. med. Astrid Neuy-Lobkowicz - Foto: Astrid Neuy-Lobkowicz

Dr. med. Astrid Neuy-Lobkowicz

Die Fachärztin für Psychosomatik und Psychotherapie ist seit 1986 als niedergelassene Fachärztin in Aschaffenburg tätig. 2006 gründete sie mit anderen Kolleg*innen das ADHS Zentrum München. Zudem ist sie Vorstands-Beisitzerin des Vereins ADHS Deutschland e.V..

Sie ist seit über 25 Jahren Expertin für das Thema ADHS bei Erwachsenen und verfasste bereits viele Veröffentlichungen zu diesem Thema: Darunter sind die Ratgeber "ADHS – erfolgreiche Strategien für Kinder und Erwachsene", "Weibliche AD(H)S: Wie Frauen mit AD(H)S erfolgreich, selbstbewusst und stabil leben können, das "AD/HS-Praxishandbuch" und "My ADHS.com" für Jugendliche mit ADHS.

Dr. med. Astrid Neuy-Lobkowicz ist selbst von AD(H)S betroffen, drei ihrer fünf Kinder ebenfalls.

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