Hybristophilie: Wenn Frauen Gewalttäter lieben
Auf Bad Boys zu stehen, ist ein Klischee. Doch was, wenn Frauen Männer lieben, die tatsächlich straffällig sind? Die Psychologie nennt das Hybristophilie.
Die meisten selbsternannten Bad Boys sind mehr Boys als bad. Auch deswegen haftet dem Klischee von Frauen, die (vermeintlich) wilde Kerle lieben, eher ein Schmunzeln an. Im Falle einer Hybristophilie aber verliebt sich jemand in einen Straftäter, der meist brutale Verbrechen begangen hat. Wie es dazu kommt und wer überwiegend von dieser sexuellen Neigung betroffen ist.
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Was ist Hybristophilie?
Die Bezeichnung Hybristophilie setzt sich zusammen aus den griechischen Begriffen "hybristes", deutsch: Übeltäter, und "philia", deutsch: Freundschaft, Zuneigung. In der Psychologie bezeichnet Hybristophilie also das Phänomen, dass sich ein Mensch in eine*n Straftäter*in verliebt.
Die bisherige Studienlage deutet darauf hin, dass überwiegend Frauen an Hybristophilie leiden. Ein Teilaspekt könnte das Verhältnis von männlichen und weiblichen Strafgefangenen sein. Im ersten Quartal 2023 gab es 41.642 männliche Strafgefangene und Sicherungsverwahrte in Deutschlands Gefängnissen. Dem gegenüber stehen nur 2.590 weibliche Häftlinge.
Zu betonen ist allerdings, dass dieses psychologische Kuriosum bisher kaum empirisch untersucht wurde.
Hybristophilie, ein weibliches Phänomen?
Die "Neue Züricher Zeitung" zitiert aus einer Studie von 2015, die Fälle von Liebesbeziehungen zwischen Gefängnisangestellten und Gefangenen in den USA untersucht hat. Demnach waren an Dreiviertel aller Fälle von sexuellem Fehlverhalten weibliche Angestellte beteiligt, obwohl sie insgesamt nur etwa ein Drittel des Gefängnispersonals ausmachten.
Der kanadische Kriminologe Philippe Bensimon von der Université de Montréal hat sich jahrelang mit Hybristophilie in Gefängnissen beschäftigt und 2016 eine Studie dazu im Fachjournal "Délinquance, justice et autres questions de société" veröffentlicht. Darin bezieht er sich auf die amerikanische Studie und betont:
"Ich denke nicht, dass die Frauen generell anfälliger sind, aber die Situation in einem Gefängnis lässt sich mit nichts vergleichen." Im hypersexualisierten Milieu eines Gefängnisses würden Frauen von den männlichen Insassen geradezu vergöttert. "Führt eine Gefängnisangestellte ein normales, emotional ausgeglichenes Leben, lässt sie sich davon nicht berühren. Hat sie aber persönliche Probleme, ist sie im Kontext eines Gefängnisses besonders gefährdet", so Bensimon.
Hybristophile Frauen idealisieren Mörder und Vergewaltiger
Hybristophilie gibt es nicht nur zwischen Gefängnisangestellten und Gefangenen. In den Medien sorgen vor allem die Fälle für Aufmerksamkeit, in denen sich Menschen, die nichts mit dem Strafvollzug zu tun haben, in Kriminelle verlieben. Eine besondere Anziehung verspüren manche Frauen ausgerechnet bei den Verbrechern, die grausame Taten begangen haben: Sexualstraftäter oder Mörder ziehen sie in ihren Bann. Sich selbst in Gefahr zu bringen, löst sexuelle Erregung bei den Betroffenen aus.
Eins der prominentesten Beispiele ist Carol Ann Boone, die Ehefrau des Massenmörders Ted Bundy (1946-1989). Der Amerikaner hatte zwischen 1974 und 1978 mindestens 30 Frauen vergewaltigt und umgebracht und dennoch gründete Carol Ann Boone sogar eine Familie mit dem Monster.
Wie entsteht hybristophile Liebe?
Obwohl Hybristophilie medial präsent ist, ist sie als Krankheitsbild bis heute kaum erforscht. Psycholog*innen gehen davon aus, dass die Gründe für die Entwicklung einer solchen sexuellen Neigung in Einsamkeit, einem geringen Selbstwertgefühl und einem starken Helfersyndrom liegen. Auch kommt es vor, dass Betroffene in ihrer Kindheit selbst Opfer von Gewalttaten oder Missbrauch geworden sind.
In einem Essay für "Psychology Today" beschreibt Katherine Ramsland, Professorin für forensische Psychologie an der DeSales University in Pennsylvania, USA, die Mechanismen hinter Hybristophilie. In Gesprächen mit hybristophilen Frauen zeichneten sich folgende Motive ab:
Der Glauben, den Kriminellen ändern zu können
Der Glauben, das innere Kind des Kriminellen offenlegen und trösten zu können
Der Wunsch nach medialer und gesellschaftlicher Aufmerksamkeit
Hinzukommt, dass ein Mann, der im Gefängnis sitzt, als perfekter Partner idealisiert werden kann. Die betroffene Frau weiß genau, wo ihr Partner sich aufhält und dass er an sie denkt. Sie fühlt sich geliebt, muss aber keinen Alltag mit ihrem Partner teilen – potentielle Streitpunkte wie Haushalt, Ordnung, Treue und Verantwortung entfallen.
Ist Hybristophilie eine Krankheit?
Hybristophilie gilt als Paraphilie, also einer Störung der Sexualpräferenz. Krankhaft wird diese Störung, wenn die Betroffenen so stark auf das Objekt ihrer Begierde fixiert sind, dass ein geregelter Alltag nicht mehr möglich ist und die Hybristophilie einen Suchtcharakter bekommt.
Gibt es spezielle Hybristophilie-Symptome?
Die Symptome einer Hybristophilie ähneln denen der Limerenz, also der obsessiven Liebe. Die Betroffenen bündeln oftmals ihre gesamte Energie auf das Objekt der Begierde und vernachlässigen ihren Alltag. Alles dreht sich um diesen einen Mann – egal, was er getan hat.
Frauen, die einen inhaftierten Mann lieben, "bringen oft erhebliche Opfer", betont Ramsland in ihrem Essay. "Sie sitzen manchmal jede Woche stundenlang da, um auf den kurzen persönlichen Besuch im Gefängnis zu warten. Sie geben ihren Job oder ihre Familie auf, um in der Nähe ihres Seelenverwandten zu sein, und sie werden mit Sicherheit Geld für ihn ausgeben – vielleicht alles, was sie haben."
Ein Hybristophilie-Symptom, das hervorsticht, ist die Verleugnung. Manche Betroffenen leugnen die oftmals eindeutig nachweisbaren Taten ihrer Partner vehement. Carol Ann Boone beispielsweise kam erst mit Ted Bundy zusammen, als dieser schon des Mordes angeklagt war, und glaubte in den Folgejahren trotz mehrerer Urteile gegen ihren Liebsten an dessen Unschuld. Als sie realisierte, was Ted Bundy getan hatte, trennte sie sich von ihm und tauchte unter. Die beiden sollen sogar eine gemeinsame Tochter gehabt haben.
Hybristophilie: Psychologie unterscheidet zwei Arten
Das Thema ist so komplex, dass in der Psychologie zwei Hybristophilie-Arten unterschieden werden, die auch der kanadische Kriminologe Philippe Bensimon näher beschrieben hat.
Passive Hybristophilie
Bei dieser Form der Hybristophilie fühlen sich Frauen (sexuell und emotional) zu Straftätern hingezogen, begehen selbst aber keine Straftaten. Laut Psycholog*innen neigen diese Frauen eher dazu, an die Unschuld des Täters zu glauben und darauf zu beharren, ihn ändern zu können.
Aktive bzw. aggressive Hybristophilie
Hier werden Frauen zu Mittäterinnen. Sie helfen ihren Partnern beispielsweise, indem sie Verbrechen verschleiern, Opfer in die Falle locken oder selbst morden.
Bonnie-und-Clyde-Syndrom: Aggressive Hybristophilie
Eins der berühmtesten hybristophilen Paare ist das Gangsterduo Bonnie und Clyde, das während der Weltwirtschaftskrise zahlreiche Überfälle beging und insgesamt 14 Menschen tötete. Die beiden lernten sich 1930 kennen, zwei Monate, bevor Clyde Chestnut Barrow (1909-1934) eine Gefängnisstrafe antreten musste. Obwohl sie ihn zu diesem Zeitpunkt erst acht Wochen kannte, besorgte Bonnie Elizabeth Parker (1910-1934) eine Waffe, die sie für ihren Liebsten ins Gefängnis schmuggelte. Clyde nutzte die Pistole zur Flucht, der Grundstein für das gemeinsame kriminelle Leben war gelegt.
Trotz der dünnen Studienlage übt Hybristophilie eine enorme Faszination sowohl auf Psycholog*innen als auch auf die Gesellschaft aus, weil die Tatsache, dass sich Frauen überhaupt in Gewalttäter verlieben können, extrem schwer nachvollziehbar ist.
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Quellen
Neue Züricher Zeitung: Gefährliche Liebe im Knast; abgerufen am 05.08.2024
Délinquance, justice et autres questions de société: Philippe Bensimon: Un phénomène tabou en milieu carcéral: l’hybristophilie ou les relations amoureuses entre détenus et membres du personnel; abgerufen am 06.08.2024
Psychology Today: Women Who Love Serial Killers; abgerufen am 06.08.2024